arkadische lesung



DIE WELT MÖCHTE besungen werden
In tiefsten und in höchsten Tönen
Warum sonst wandeln wir auf Erden
Wenn nicht um sie zu erwähnen
Laut und voll
Wild und toll
Sacht und zart
In jeder Art

Nimmt sie unsern Gesang entgegen
Wir fühlen uns dann fast verwegen
Als höben wir uns ein Stück in die Lüfte
Und schauten herab auf die Geschäfte

Die mageren Jahre
Und fetten Jahre
Die bitteren Stunden
Die süßen Stunden

Die einsamen und gemeinsamen Wege
So trostlos und froh wir sie wagen zu gehn
Unser Lied macht das Gehen schön

Sophie Warning

























Ich
staunte heut
so manches
Wunder an.

Keats, John (1795 - 1821)




















DAS GEHEIMNIS DES GLÜCKS

Als ihm ein Engel erzählt hatte, Noureddin Becar sei der glücklichste Mann der Welt, ließ der Sultan ihn in den Palast bringen und sagte: "Verrate mir, ich befehle es dir, das Geheimnis deines Glücks." "O Vater der Sonne und des Mondes", antwortete Noureddin Becar, "ich habe nicht gewußt, daß ich glücklich bin." "Das", sagte der Sultan, "ist das Geheimnis, das ich gesucht habe." Noureddin Becar zog sich in tiefster Niedergeschlagenheit zurück, da er fürchtete, sein frischgefundenes Glück möchte ihn verlassen.

Bierce, Ambrose (1842 - 1914 verschollen)













WER WUßTE JE DAS LEBEN RECHT ZU FASSEN,
Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,
Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,
Muß vor des Lebens Widerspruch erblassen.

Denn jeder hofft doch, daß das Glück ihm lache,
Allein das Glück, wenns wirklich kommt, ertragen,
Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.

Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:
Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,
Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.

Platen, August Graf von (1776 - 1835)






























DIE POESIE
der Erde
endet nie

Keats, John (1795 - 1821)




















WIRF DICH WEG! Sonst bist du nicht
meiner Art und meines Blutes.
Wehe, wachst du zagen Mutes
über deinem Lebenslicht,
dessen Flamme gar nichts wert,
wenn sie nicht ihr Wachs - verzehrt.

Brenne durstig himmelan!
Brenne stumm hinab! Doch - brenne!
Daß dein Los von dem dich trenne,
der sich nicht verschwenden - kann.
Laß ihm seine Angst und Not!
Du verstehe nur - den Tod!

Morgenstern, Christian (1871 - 1914)














DROHNE DIE BESTÄUBT
Gleiches das betäubt
Wirrung bin ich Finsternis
Vage Wege ungewiß
Gift gespitzter Pfeil gefährlich
Tödlich manchmal unentbehrlich
Nimm dich in acht nimm dich in acht
Denn was da lacht
Zerstören kann und Licht kann bringen
Vernichten und emporsichschwingen
Vorsicht: tappe nicht in Fallen!
Hat's dich gepackt bist du verfallen
Dem Rauschgift gleich verzehr ich dich
"Flamme bin ich sicherlich"

Felix Quadflieg



ES HAT GESCHÜTTELT DIE SINNE MIR
Eros, so wie ein Sturm in die Eichen des Bergwalds fällt.
Wie ein Kind zu der Mutter, so bin ich geflogen.
Weder Honig noch Biene begehr ich ...
Wünsch ich denn jetzt noch die Jungfernschaft?

Sappho (ca. 630 - ca. 570)




























BRAUSE, Wind, brause!
Nimm alles Behagen von mir!

Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900)























DIE LINDE
Steht in der weiten Landschaft die Linde
Trunken vor Herbstglück und Abschied und schenkt
Tausend goldene Herzen dem Winde,
Der sie in tausend Liebkosungen tränkt.

Aber der Wind will als Liebster nicht taugen,
Bald schon gedenkt er der Trauten nicht mehr.
Ist er ihr einmal nur ganz aus den Augen,
Wirbelt er achtlos die Herzen umher!

Liegen die Herzen zertreten im Staube:
Nun hat die Linde sich völlig vertan,
Nun steht sie bloß und den Stürmen zum Raube!
Niemand sieht es der Frierenden an,

Wie sie einst reich war und was sie verschwendet,
Niemand ermißt ihr unendliches Weh!
Nur der Winter, der alles endet,
Deckt sie erbarmend mit seinem Schnee.
Wird sie sich künftighin weise beschränken,
Wenn ihr der Frühling erneuert das Kleid?
Wieder im Herbst wird sie Herzen verschenken,
Immer und immer zu schenken bereit!

Sperber-Margul, Alfred (1749 - 1832)










ALLES GEBEN DIE GÖTTER, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz:
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.

Goethe, Johann Wolfgang von (1749 - 1832)



















Gesang der Geister über den Wassern (1. Strophe)

Des Menschen Seele
gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
zum Himmel steigt es,
und wieder nieder
zur Erde muß es,
ewig wechselnd

Goethe, Johann Wolfgang von (1749 - 1832)













RESIGNATION
Ja, so geht es in der Welt,
Alles fühlt man sich entgleiten,
Jahre, Haare, Liebe, Geld
Und die großen Trunkenheiten.

Ach, bald ist man Doctor juris
Und Assessor und verehelicht,
und was eine rechte Hur is,
Das verlernt man so allmählicht.

Nüchtern wurde man und schlecht.
Herz, du stumpfer, dumpfer Hammer!
Ist man jetzt einmal bezecht,
Hat man gleich den Katzenjammer.

Klabund (1890 - 1928)




O GEBT MIR WEIN, der klaftertief versteckt
Gereift im Boden eines kühlen Hangs,
Nach grünem Geist, nach grünem Anger schmeckt
Und nach gebräunter, blendender Provence!
O einen Becher, drin der Süden schwankt,
Drin Hippokrene aufwallt, rot entbrannt,
Und der beschlägt mit frischem Perlenhauch,
Am Mund wie Purpur prangt:
Daß ich ihn leer und mit dir unerkannt
Die Welt verlaß und in die Waldflut tauch!

Keats, John (1795 - 1821)













EIN TRAUM, ein Traum ist unser Leben
auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
und schwinden wir.
Und messen unsre trägen Tritte
nach Raum und Zeit;
und sind (und wissens nicht) in Mitte
der Ewigkeit ...

Herder, Johann Gottfried (1744 - 1803)

















MEINE SEHNSUCHT
Meine Sehnsucht waren die alten Zeiten,
meine Sehnsucht war die Gegenwart,
meine Sehnsucht war die Zukunft,
und mit alledem sterbe ich in einem Wächterhäuschen
am Straßenrand,
einem aufrechten Sarg, seit jeher
einem Besitzstück des Staates.
Mein Leben habe ich damit verbracht,
mich zurückzuhalten, es zu zerschlagen.

Kafka, Franz (1883 - 1924)












DER HIMMEL STEHT SO WEIT und blau
Es führt kein Weg hinein
Wir können nur hier sein
Und schauen uns die Augen wund
Nach einer Tür nach einem Spund
Und wissen doch genau
Es führt kein Weg da hin
Den wir nicht erst erfinden
Mit Herz und Hand und Sinn
Die Zeit auf ihm zu binden
Blicken wir zurück
Sehen wir ein Stück
Voraus ist nichts
Nur rund und groß
Des Himmels blauer weiter Schoß

Sophie Warning




DIE MENSCHEN ARBEITEN gemeinhin allzu viel, um noch sie
selbst zu sein. Die Arbeit ist ein Fluch. Doch der Mensch hat diesen Fluch in eine Wollust umgemünzt. Aus allen Kräften und nur um der Arbeit willen arbeiten, sich an der Anstrengung laben, die unweigerlich zu belanglosen Errungenschaften führt, sich vorstellen, daß man sich nur durch objektive und unausgesetzte Arbeit verwirklichen kann, darin liegt das Empörende und Unbegreifliche. Die beharrliche und ununterbrochene Arbeit verblödet, trivialisiert und entpersönlicht. Sie entrückt die Beschäftigungen und Interessen der subjektiven Zone und verlagert sie in eine objektive Sphäre der Dinge, auf eine schale Ebene der Objektivität. Der Mensch kümmert sich dann nicht mehr um sein persönliches Schicksal, um seine innere Bildung, um die Glut innerer Phosphoreszenz und um die Verwirklichung einer leuchtenden Gegenwart, sondern um Tatsachen und Dinge. Die wahre Arbeit, die eine fortwährende Verklärungstätigkeit sein könnte, sinkt zu einer Betätigung der Entäußerung, des Austritts aus dem Zentrum des Wesens herab. Es ist bezeichnend, daß in der modernen Welt die Arbeit auf eine ausschließlich äußere Tätigkeit hindeutet. Deshalb verwirklicht der Mensch nicht sich durch sie, sondern er verwirklicht irgend etwas. Der Umstand, daß jeder Mensch einer Karriere nachgehen, in irgendeine Lebensform, die ihm fast niemals entspricht, eintreten muß, ist Ausdruck der Vertrottelungstendenz durch Arbeitswut. Arbeiten, um zu leben: diese Fatalität ist beim Menschen schmerzlicher als beim Tier. Denn dessen Tätigkeit ist derart organisch, daß sie mit dem eigenen Dasein unzertrennlich verschmilzt, während sich der Mensch durchaus des beträchtlichen Mehr, der Formenvielfalt der Arbeit, bewußt ist. In der Arbeitsraserei des Menschen bricht eine seiner Neigungen hervor, das Böse zu lieben, wenn es verhängnisvoll ist und häufig vorkommt. Und in der Arbeit hat der Mensch sich selbst vergessen. Aber nicht hat er sich vergessen, weil er die arglose und delikate Naivität, sondern die an Schwachsinn grenzende Selbstentäußerung erreicht hat. Durch die Arbeit ist er vom Subjekt zum Objekt degradiert worden: ein der Wildheit beraubtes Tier. Statt daß der Mensch eine durchstrahlende Wesenheit, ein sonnenhaftes und funkelndes Dasein anstrebt, anstatt für sich selbst zu leben - nicht im Sinne von Selbstsucht, sondern von innerem Wachstum -, ist er zum sündigen und inkompetenten Knecht der Wirklichkeit von draußen verfallen.
Wo sind in einem solchen Dasein noch Ekstasen und Visionen? Wo gibt es noch den höchsten Wahnsinn, wo die echte Wonne des Bösen? Denn die negative Wollust, die aus der Begeisterung für die Arbeit herrührt, ist vom alltäglichen Elend und von der menschlichen Seichtigkeit, von einer abscheulichen und peripheren Kleinlichkeit angekränkelt. Warum entschließen sich die Menschen denn nicht, mit der bisherigen Arbeit zu brechen und mit einer anderen zu beginnen, bei der keinerlei Ähnlichkeit mehr zu der Arbeit besteht, an die sie sich verschwendet haben? Ist es denn nötig gewesen, Pyramiden, Paläste, Tempel und Burgen zu errichten? Reicht das subjektive Bewußtsein der Ewigkeit, das Bewußtsein jener Erfüllung im Überbewußtsein nicht aus? Wenn frenetische Tätigkeit, unaufhaltsamer Arbeitsdrang und äußere Rastlosigkeit etwas zerstört haben, dann ist ihnen gewiß der Sinn für die Ewigkeit zum Opfer gefallen. Betätigung ist Verneinung der Ewigkeit. Je mehr das Erringen von Gütern im Zeitlichen wächst, je mehr sich die äußere Arbeit steigert, desto unzugänglicher, entfernter und unerreichbarer wird die Ewigkeit. Von daher rührt die beschränkte Perspektive aller Arbeitsamen und Tatkräftigen und ihre heillose Plattheit des Denkens und Fühlens. Arbeit bedeutet Abseitigkeit. Und obgleich ich der Arbeit weder passive Kontemplation noch verschwommene Träumerei gegenüberstelle, sondern die durchdringende Verklärung des Wesens, ziehe ich der rasenden, intoleranten und unumschränkten Tätigkeit dennoch die Faulheit vor, die alles versteht und rechtfertigt. Um die moderne Welt zum Leben wachzurütteln, muß das Lob der Faulheit angestimmt werden, jener Faulenzerei, die innerliche Gelassenheit und ein allesduldendes Lächeln durchtränken. Ein Müßiggänger hat unendlich viel mehr Sinn für Metaphysik als der Betriebsame. Es kann jedoch mitunter vorkommen, daß der Müßiggang genauso wie die Anstrengung ein Anzeichen von Imbezillität ist. Deshalb kann das wahre Lob nur der Verklärung gelten.

Cioran, E. M. (1911 - 1995)




GIPFEL DES ENTZÜCKENS

Gipfel des Entzückens!
Alles in der Luft ist Vogel.
Das Nahe schwebt
gelöst in der Ferne.

Heer schlanker Kräfte!
Welch junge Tatenlust
im luftigen Raum,
dicht von Präsenz!

Die Welt hat die arglose
Tiefe der Spiegel.
Die klarsten Entfernungen
träumen das Wahre.

Süße der unersetzlichen
Jahre! Späte Hochzeit
mit der Geschichte,
die ich täglich verwarf.

Mehr, immer noch mehr!
Zur Sonne hin schwebend,
entflieht die Fülle.
Mir bleibt nichts als Gesang!

Guillén, Jorge (1892 - 1984)




SONETT AN ORPHEUS

Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.

Rilke, Rainer Maria (1875 - 1926)





Einsame Zwiesprach

Kannst du zürnen, wenn ich dich frage,
wo wärest du ohne mich?
Du wagtest mich erst am sechsten Tage:
Ich schuf mit einem Gedanken Dich.

Und mit einem Gedanken
tilge ich dein Sein;
reiße ich Bund und Schranken
zwischen dir und mir wieder ein.

Siehe, du mußtest ruhen,
als das Werk du beendet in mir.
Ich baue in Sehnsucht und Liebe
noch immer an dir.

Und darum nur bist du stärker
und überragest mich:
Weil meine Sehnsucht und Liebe
größer ist als ich.

Weinheber, Josef (1875 - 1926)





PREISLIED AUFS PREISEN

Preisen! Lieben! Loben! Singen!
Dienen! Dulden! Benedein!
Willig mit dem Weltgeist ringen!
Flügelfroh ins All sich schwingen!
Allen Dingen dankbar sein!

Sich am Sein beglückt erhalten!
(wie's der alte Meister will) -
Naht sich langsam das Erkalten,
laß die dunklen Moiren walten:
Halte mit uns aus und still!

Not und Jammer! Blut und Tränen!
Brunnentief verschwiegenes Leid!
Ewig ungestümes Wähnen!
Ewig ungestilltes Sehnen!
Danaidentonne "Zeit"!

Danaergeschenk des Lebens!
Funke zwischen Nacht und Nacht!
Herz, du Wiege allen Bebens,
Schwebens, Strebens, Sichergebens:
erst im Sarge ist's vollbracht!

Herz! und willst trotz allem preisen
dein verdrießliches Geschick?
willst dir unbedingt beweisen,
daß du härter bist als Eisen?
Kauf dir lieber einen Strick! -

Spricht das Herz: "Ich hab's erwogen,
und ich weiß, wie du, Bescheid.
Unbetrogen, unbelogen
hab´ ich die Bilanz gezogen,
die, weiß Gott, zum Himmel schreit.

d ich wollte selber schreien,
fluchen, flennen, maledein
und mich der Verzweiflung weihen
(Haß den Zimbeln und Schalmeien!);
aber, sieh, ich ließ es sein.

Frag mich nicht warum, mein Lieber:
ganz begreif ich's selber nicht.
Was ich fühle ist ein Fieber.
Nimm's nicht zu genau, mein Lieber,
was ein Fieberkranker spricht."

Gan, Peter (1894 - 1974)




DIE LIEBE HAT EINEN TRIUMPH

Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen,
die Zeit und die Zeit danach.
Wir haben keinen.

Nur sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen.
Doch das Lied überm Staub danach
wird uns übersteigen.

Bachmann, Ingeborg (1926 - 1973)




AUFTRAG

Geht, meine Lieder, zu den Einsamen, den Unzufriedenen,
Und zu den Überreizten, geht zu denen, die von Konventionen unterjocht sind.
Entbietet ihnen meine Verachtung der Unterdrücker,
Geht wie eine Welle kühlen Wassers,
Entbietet meine Verachtung den Unterdrückern.

Sprecht gegen unbewußte Unterdrückung,
Gegen die Tyrannei der Phantasielosen,
Sprecht gegen Bande.
Geht zu der Gnädigen, die an Langeweile eingeht,
Zu den Frauen der Vorstadt.
Geht zu den ruchlos Vermählten,
Geht zu denen, deren Versagen versteckt ist,
zu den unselig Gepaarten,
Geht zur erworbenen Gattin
Und zu der Frau, die verbrieft ist.

Geht zu denen mit den zarten Gelüsten,
Deren Verlangen durchkreuzt wird,
Geht und versehrt wie ein Mehltau die Stumpfheit der Welt.
Geht mit der Klinge dagegen,
Stärkt die geschmeidigen Sehnen,
Bringt Vertrauen den Algen und Fühlern der Seele.

Gehet auf freundliche Art und
Mit lauterer Rede.
Fahndet mit Eifer nach neuem Übel, nach neuem Guten,
Hadert mit allen Arten der Unterdrückung,
Geht zu denen, die mit den Jahren dumpf wurden,
Die ihr Interesse verloren.

Geht zu den Halbwüchsigen, die in Familie erstickt sind -
Oh, wie widerlich der Anblick
Dreier Generationen eines Geschlechtes
unter einem Dach versammelt.

Wie ein alter Baum mit Trieben
Und manchem morschen Ast, der abfault.

Ziehet aus und trotzet der Meinung,
Geht gegen die vegetabilen Bande des Blutes
Und gegen alle toten Hände.

Ezra Pound (1885 - 1972)




SONNTAG IN LÜBECK

Wie sie kauend durch die Straßen schieben!
Du mußt diese Menschen nicht lieben.

Wie sie gekleidet sind, die Ungeschlachten!
Du mußt diese Menschen nicht achten.

Wie erfreulich es wär, wenn sie weniger wögen!
Du mußt diese Menschen nicht mögen.

Wie sie durch ihre Stumpfheit entsetzen!
Du mußt diese Menschen nicht schätzen.

Wie schafft man es nur, sie nicht zu hassen!
Da mußt du dir etwas einfallen lassen!

Gernhardt, Robert (1937 - 2006)




ZEITGENOSSEN, HAUFENWEISE

Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
und, wo das Herz sein müßte, Telefon.

Sie wissen ganz genau, daß Kreise rund sind
und Invalidenbeine nur aus Holz.
Sie sprechen fließend, und aus diesem Grund sind
sie Tag und Nacht - auch sonntags - auf sich stolz.

In ihren Händen wird aus allem Ware.
In ihrer Seele brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare.
Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht!

Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,
fast als benutzten sie es als Gesäß.
Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen.
Die Liebe treiben sie programmgemäß.

Sie singen nie (nicht einmal im August)
ein hübsches Weihnachtslied auf offner Straße.
Sie sind nie froh und haben immer Lust
und denken, wenn sie denken, durch die Nase.

Sie loben unermüdlich unsre Zeit,
ganz als erhielten sie von ihr Tantiemen.
Ihr Intellekt liegt meistens doppelt breit.
Sie können sich nur noch zum Scheine schämen.

Sie haben Witz und können ihn nicht halten.
Sie wissen vieles, was sie nicht verstehn.
Man muß sie sehen, wenn sie Haare spalten!
Es ist, um an den Wänden hochzugehn.

Man sollte kleine Löcher in sie schießen!
Ihr letzter Schrei ist noch ein dernier cri.
Jedoch sie haben viel zu viel Komplicen,
als daß sie sich von uns erschießen ließen.
Man trifft sie nie.

Kästner, Erich (1899 - 1974)




MISANTHROPOLOGIE

Schöne Dinge gibt es dutzendfach.
Aber keines ist so schön wie diese:
eine ausgesprochen grüne Wiese
und paar Meter veilchenblauer Bach.

Und man kneift sich. Doch das ist kein Traum.
Mit der edlen Absicht, sich zu läutern,
kniet man zwischen Blumen, Gras und Kräutern.
Und der Bach schlägt einen Purzelbaum.

Also das, denkt man, ist die Natur?
Man beschließt, in Anbetracht des Schönen,
mit der Welt sich endlich zu versöhnen.
Und ist froh, daß man ins Grüne fuhr.

Doch man bleibt nicht lange so naiv.
Plötzlich tauchen Menschen auf und schreien.
Und schon wieder ist die Welt zum Speien.
Und das Gras legt sich vor Abscheu schief.

Eben war die Landschaft noch so stumm.
Und der Wiesenteppich war so samten.
Und schon trampeln diese gottverdammten
Menschen wie in Sauerkraut herum.

Und man kommt, geschult durch das Erlebnis,
wieder mal zu folgendem Ergebnis:
Diese Menschheit ist nichts weiter als
eine Hautkrankheit des Erdenballs.

Kästner, Erich (1899 - 1974)




KOMMT

Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun -
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot -
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.

Benn, Gottfried (1886 - 1956)




SEHNSUCHT NACH FRISCHE

Es gibt auch eine solche - eine solche Geschichte:
In Zeiten der Verzweiflung,
Im Blitz der Phantasie...

Allein,
Allein in diesem Loch, das alles zum Scheusal verwandelt:
Herzen in kleine Motorräder,
Ohren in kleine Flughäfen,
Häuser in Maschinen voll singenden Fleisches.

Und dann diese Sehnsucht -
Dieses goldene Horn des Herzens:

Käme doch jemand, brächte Blumen,
Bräche doch jemand herein, reichte Wasser,
Trüge doch jemand zu mir seinen Leib riechend nach Schweiß
Mit kleinem Regen auf den Härchen unter den Armen.

Machte doch jemand so starken Wind mit seinem Kleid
Auf die von Poesie zerquälte
Samtene Fresse.

Grochowiak, Stanilaw (1934 - 1976)




DER DICHTER

Abends zählt er seine Leiden
Tut sich an dem Vorrat weiden
Wählt eins aus
Bedichtet es
Und das Dichten richtet es
Morgens aber fleht er wieder
Schicksals Hammer sause nieder
Denn ich wähn mich schon im Grabe
Wenn ich nichts zu dichten habe.

Gernhardt, Robert (1937 - 2006)




liegendes gedicht

hier liegt, es hat sich
hingelegt, es hat von selbst
sich hingelegt, ein
liegendes gedicht
oder es ist hingelegt worden
jemand hat es hingelegt
und zugedeckt, "da lieg schön brav", ein
dichter vielleicht

jandl, ernst (1925 - 2000)




DAS WUNDER

Als von tiefen Abendschatten ward mein
armes Herz verdunkelt,
sah ich plötzlich, daß ein Stern noch mir in
deinem Auge funkelt.
Und durch deine Züge zog ein Leuchten wie von
jenem Lichte,
als der Schöpfer sich erkannte in der
Schönheit Urgesichte.
Da ich schaudernd mich vermutet außer des
Naturglücks Grenzen,
unvermutet übergoß mein armes Haupt ein
großes Glänzen.
Denn durch deine Züge zog ein Leuchten
wie von jenem Lichte.
Und es standen Nachtgedanken strahlend
auf als Taggedichte.

Kraus, Karl(1874 - 1936)




WIE ICH DICH NENNE WENN ICH AN DICH DENKE UND DU NICHT DA BIST

meine Walderdbeere
meine Zuckerechse
meine Trosttüte
mein Seidenspinner
mein Sorgenschreck
meine Aurelia
meine Schotterblume
mein Schlummerkind
meine Morgenhand
mein Vielvergesser
mein Fensterkreuz
mein Mondverstecker
mein Silberstab
mein Abendschein
mein Sonnenfaden
mein Rüsselhase
mein Hirschenkopf
meine Hasenpfote
mein Treppenfrosch
mein Lichterkranz
mein Frühlingsdieb
mein Zittergaul
meine Silberschnecke
mein Tintenfaß
mein Besenfuchs
mein Bäumefäller
mein Sturmausreißer
mein Bärenheger
mein Zähnezeiger
mein Pferdeohr
mein Praterbaum
mein Ringelhorn
meine Affentasche



meine Winterwende
meine Artischocke
meine Mitternacht
mein Rückwärtszähler

(da capo)

Mayröcker Friederike (1924-2021)




ECCE HOMO

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
glühe und verzehr ich mich.

Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!

Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900)




DIE FLAMME

Ob du tanzen gehst in Tand und Plunder,
Ob dein Herz sich wund in Sorgen müht,
Täglich neu erfährst du doch das Wunder,
Daß des Lebens Flamme in dir glüht.

Mancher läßt sie lodern und verprassen,
Trunken im verzückten Augenblick,
Andre geben sorglich und gelassen
Kind und Enkeln weiter ihr Geschick.

Doch verloren sind nur dessen Tage,
Den sein Weg durch dumpfe Dämmrung führt,
Der sich sättigt an des Tages Plage
Und des Lebens Flamme niemals spürt.

Hesse, Hermann (1877 - 1962)




WIR MÜSSEN UNSER DASEIN
so weit, als es irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Daß die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; (...). Aber die Angst vor dem Unaufklärbaren hat nicht allein das Dasein des Einzelnen ärmer gemacht, auch die Beziehungen von Mensch zu Mensch sind durch sie beschränkt, gleichsam aus dem Flußbett unendlicher Möglichkeiten herausgehoben worden auf eine brache Uferstelle, der nichts geschieht. (...) Aber nur wer auf alles gefaßt ist, wer nichts, auch das Rätselhafteste nicht, ausschließt, wird die Beziehung zu einem anderen als etwas Lebendiges leben und wird selbst sein eigenes Dasein ausschöpfen.

Rilke, Rainer Maria (1875 - 1926)




SPRUCH

Du kannst nicht sein, du kannst dich nur verschwenden,
kannst bleiben nicht, die Welt, sie wandert aller Enden.
Du kannst nicht sammeln, jedes Gold wird Blei,
und nichts ergreifen, alles schwirrt vorbei.
Du kannst nicht wissen, denn es ward schon Trug,
du kannst nur lieben; lieben ist genug.

Bertram, Ernst (1884 - 1957)




ANFANG DER LIEBE

Wind ist gut. Liebe ist gut.
Nacht ist gut. Wenn die Liebe gut ist.
Wissen möchte ich, ob man die Liebe,
Wenn sie einst aufhört, nicht mehr vermißt.

Oder ob sie uns immer bleibt,
Dunkelnd mit uns in dämmernden Jahren.
Ob uns noch das zueinandertreibt?
Werden wir leben und es erfahren?

Jünger fühlt es sich grüner an.
Nichts trifft uns gründlich. Alles ist leicht.
Erst wenn man weiß, daß sie enden kann,
Hat man den Anfang der Liebe erreicht.

Strittmatter, Eva (1930-2011)




AN ANNA BLUME

O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich
liebe dir! - Du deiner dich dir, ich dir, du mir.

Das gehört ( beiläufig) nicht hierher.
Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist
- bist du! - Die Leute sagen, du wärest - laß
sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst
auf die Hände, auf den Händen wanderst du.
Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt.
Rot liebe ich Anna Blume, rot Liebe ich dir! - Du
deiner dich dir, ich dir, du mir. - Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage: 1. Anna Blume hat ein Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel!
Blau ist die Farbe deines gelben Haares.
Rot ist das Girren deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes
grünes Tier, ich liebe dir! - Du deiner dich dir, ich
dir, du mir - wir?
Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle deinen
Namen. Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt du es, Anna, weißt du es schon?
Man kann dich auch von hinten lesen, und du, du
Herrlichste von allen, du bist von hinten wie von
vorne: "a-n-n-a".
Rindertalg träufelt streichelnd über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!

Schwitters, Kurt (1887 - 1948)




ICH GLAUBE, ICH KÖNNTE HINGEHEN
und mit den Tieren
leben, sie sind so ruhig und beschlossen in sich,
Ich stehe und schaue sie an, lange und lange.

Sie schwitzen und wimmern nicht über ihre Lage,
Sie liegen nicht wach im Dunkeln und weinen über ihre Sünden,
Sie ekeln mich nicht an mit Erörterungen ihrer Pflichten vor Gott,
Keins ist unzufrieden, keins besessen von dem Wahn, Dinge besitzen zu wollen,
Keins kniet vor dem andern oder vor seinesgleichen, das vor tausend Jahren gelebt hat, Keins ist Respektsperson oder unglücklich auf der ganzen Erde.
So zeigen sie mir Verwandtes, und ich nehme es an,
(...)

Whitman, Walt (1819 - 1892)




Erregt von

Stein zu Stein
springend
zusammen mit
Sonnenstrahlen
gefangen in einem Netz
aus Übermut und
Zärtlichkeit.

Herburger, Günter (1932-2018)




SELBSTLOS

Ich will mich in tausend Spiegeln besehn
und mich vor mir selber wenden und drehn.
Ich will mich teilen, zersplittern, zerfließen
und mich in jede Form neu wieder gießen.
Ich will die gepanzerte Seele sprengen,
das Ich aus seinem Angelpunkt hängen,
auf diese Weise mein Selbst verlieren
und mich und die Welt und die Ewigkeit spüren.

Fitz, Lisa (1951)




TROTZ DES KLASSENUNTERSCHIEDES

fährt das Leben uns alle gemeinsam in ein und demselben Expreßzug dem Tode zu. Weise wäre es, wenn man bis zur Endstation schlafen würde. Aber die Reise entzückt uns, und wir geben uns all dem, was uns nur zum Zeitvertreib dienen sollte, so über die Maßen hin, daß es uns am letzten Tag schwerfällt, die Koffer zu packen und abzuschließen.

Cocteau, Jean (1892 - 1963)




LEBENDIG?

Einer behauptet
er lebt
und will das beweisen
indem er sagt
er hat gegessen
gelacht
getrunken
und fast
geweint

Das beweist nichts
Das haben
auch alle
die tot sind
getan

Fried, Erich (1921 - 1988)




epoche der zahlreichen veränderungen

eine veränderung
und wieder
eine veränderung
und wieder
eine veränderung
und wieder
eine veränderung
und wieder
eine veränderung
und wieder
eine veränderung
und schon wieder
eine veränderung
und schon wieder
eine veränderung
und schon wieder
eine veränderung
und schon wieder
und noch eine
und noch eine
und noch eine
und noch eine
und noch eine
und noch viele
und noch viele viele viele viele viele
geburtstage im kreise der familie

jandl, ernst (1925 - 2000)




JA, DAS LEBEN WAR DOCH GAR NICHT SO SCHLECHT,
wenn man noch richtig Kummer haben konnte.

Boetius, Henning (1939-2022)




AUCH DAS

Ratlosigkeit ist gut
Verlieren ist gut
Versäumnis ist gut
Verkehrte Wege wählen ist gut
Nicht weiterwissen ist gut
Sich leer fühlen ist gut.
Auch das ist ein volles Leben.

Fritz, Walter-Helmut (1929-2010)




MEINE SEHNSUCHT

Meine Sehnsucht waren die alten Zeiten,
meine Sehnsucht war die Gegenwart,
meine Sehnsucht war die Zukunft,
und mit alledem sterbe ich in einem Wächterhäuschen
am Straßenrand,
einem aufrechten Sarg, seit jeher
einem Besitzstück des Staates.
Mein Leben habe ich damit verbracht,
mich zurückzuhalten, es zu zerschlagen.

Kafka, Franz (1883 - 1924)




ICH WILL DAS WAHRE GEDICHT
des Reichtums dichten,
Zu ernten für Körper und Geist alles, was Dauer hat, weiterwächst und
nicht im Tode vergeht:
Ich will Selbstgefühl ausströmen und zeigen, daß es allem zugrunde
liegt, und will der Sänger der Persönlichkeit sein,
Und von Mann und Weib will ich zeigen, daß eins nur das gleiche des
anderen ist.
Und Zeugungsorgane und -akte! verdichtet euch in mir! Denn ich bin
willens, mit mutiger, klarer Stimme euch auszusprechen und zu
bezeugen, daß ihr erhaben seid,
Und ich will zeigen, daß es keine Unvollkommenheit gibt in der
Gegenwart und keine geben kann in der Zukunft,
Und ich will zeigen, daß alles, was einem widerfährt, sich zu herrli-
chem Ausgang wenden kann,
Und ich will einen Faden spinnen durch meine Gedichte hindurch, der
bedeutet, daß Zeit und Geschehnisse eine geschlossene Einheit
sind
Und daß alle Dinge im Weltall vollkommene Wunder sind, eins so tief
wie das andre.
Ich will keine Gedichte machen über einzelne Teile,
Sondern Gedichte, Gesänge, Gedanken über das Ganze,
Und ich will singen nicht für einen Tag, sondern für alle Tage,
Und ich will kein einziges Gedicht noch geringsten Teil eines Gedich-
tes machen, das nicht Bezug hätte auf die Seele,
Denn ich habe alle Dinge im Weltall angeschaut und gefunden, daß es
keines gibt und kein kleinstes Teilchen von einem gibt, das nicht
Bezug hätte auf die Seele.

Ich glaube, ein Grashalm ist nicht geringer, als das Tagwerk der
Sterne,
Und die Ameise ist nicht minder vollkommen, und des Zaunkönigs Ei,
und ein Sandkorn,
Und die Baumkröte ist ein Meisterstück vor dem Höchsten,
Und die Brombeerranken könnten die Hallen des Himmels
schmücken,
Und das schmalste Gelenk meiner Hand spottet aller Technik,
Und die Kuh, die wiederkäut mit gesenktem Kopf, übertrifft jedes
Bildwerk,

Und eine Maus ist Wunders genug, um Sextillionen von Ungläubigen
wankend zu machen.

Ich finde, ich verkörpere Gneis, Kohle, langhaariges Moos, Früchte,
Ähren, eßbare Wurzeln,
Ich bin über und über mit einer Stukkatur von Vierfüßlern und Vögeln
bedeckt,
Ich habe, was hinter mir liegt, aus guten Gründen weit überholt,
Rufe aber, wenn ich es will, alles wieder zu mir heran.

Whitman, Walt (1819 - 1892)



ICH BIN EIN SUCHER

Ich bin ein Sucher
Eines Weges.
Zu allem was mehr ist
Als
Stoffwechsel
Blutkreislauf
Nahrungsaufnahme
Zellenzerfall.

Ich bin ein Sucher
Eines Weges
Der breiter ist
Als ich.

Nicht zu schmal.
Kein Ein-Mann-Weg.
Aber auch keine
Staubige, tausendmal
Überlaufene Bahn.

Ich bin ein Sucher
Eines Weges.
Sucher eines Wegs
Für mehr
Als mich.

Kunert, Günter (1929-2019)




NIEMAND

Ich bin König Niemand
trage mein Niemandsland
in der Tasche

Mit Fremdenpaß reise ich
von Meer zu Meer

Wasser deine blauen
deine schwarzen Augen
die farblosen

Mein Pseudonym
Niemand
ist legitim

Niemand argwöhnt daß
ich ein König bin
und in der Tasche trage
mein heimatloses Land

Ausländer, Rose (1901 - 1988)




AUGENBLICK

Ich will mich für nichts mehr bewahren,
Was noch kommen könnte,
Und will an mir nicht mehr sparen.
Was ich mir bisher nicht gönnte:
Die lässige Hingabe an den Tag,
Die gönne ich mir nun endlich.
Und alles ändert sich mit einem Schlag.
Ich leb nicht mehr überwendlich.
Ich freue mich, daß ich die Freiheit habe,
In der Frühe durch diesen Schnee zu gehn,
Und daß ich dem Schnee meine Spuren eingrabe,
Und daß mich das Licht und die Kälte anwehn.
Da ist das Geheimnis des Glückes entsiegelt:
Der Augenblick kennt kein Ungemach.
Und wie sich rötlich der Himmel spiegelt
Im schwarz unterm Schnee verrinnenden Bach!
Ich habe zuviel von Erwartung gelebt.
Und Fäden zu fremden Menschen gesponnen.
Und aus diesen Fäden Träume gewebt.
Und immer von neuem die Hoffnung begonnen,
Daß etwas in der Ferne geschieht,
Das bis zu mir herüberreicht
Und mich zu sich hinüberzieht,
Etwas, das nichts auf Erden gleicht.
Jetzt akzeptiere ich mein Geschick
Und seine Ganzalltäglichkeit.
Und ich begreife den Augenblick
Als meinen Anteil an der Zeit.

Strittmatter, Eva (1930-2011)




BERUFUNG ZUM SEIN

Der Morgen!
Duft nach Gewitter und Tau breitet sich aus,

sucht jungfräulichen
Raum, Tiefe ungeatmeten Windes.

Und das Gras,
gerade erschienen, fast nicht zu sehen

mit seinem kindlichen
Grün auf der Erde, das eine Anmut bewegt,

bestätigt auf einmal
in dem Entzückten seine Berufung zum Sein.

Guillén, Jorge (1892 - 1984)




vermeide dein leben

du bist ein mensch, verwandt der ratte.
leugne gott.
beginne nichts, damit du nichts beenden mußt.
du hast dich nicht begonnen - du wurdest begonnen.
du verendest, ob du willst oder nicht.
glück ist: sich und die mutter bei der geburt zu töten.
eines nur suche: deinen baldigen schmerzfreien tod.
hilferufe beantworte durch taubheit.
benütze dein denken zum vergessen von allem.
liebe streiche aus deinem vokabular.
verbrenne dein wörterbuch.
atme dich zu tode.

jandl, ernst (1925 - 2000)




DAS UNMÖGLICHE

Im Schoße der Unermeßlichkeit bin ich ein MEHR, das über diese Unermeßlichkeit hinausgeht. Mein Glück, ja mein Wesen überhaupt beruhen auf diesem Darüber-Hinaus.

Bataille, Georges (1897 - 1962)




WAS ES IST

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Fried, Erich (1921 - 1988)




my own song

ich will nicht sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht ihr sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr seid
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr sein wollt
so wie ihr mich wollt

nicht wie ihr mich wollt
wie ich sein will will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich bin will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt will ich sein
ich will sein.

jandl, ernst (1925 - 2000)