Lesung mit Gedichten und Texten zum Thema Identität anläßlich der Ausstellung "identities" Papierfaltungen von Sylvia Händel im Institut Français, Juni 2001 SELBSTLOS Ich will mich in tausend Spiegeln besehn und mich vor mir selber wenden und drehn. Ich will mich teilen, zersplittern, zerfließen und mich in jede Form neu wieder gießen. Ich will die gepanzerte Seele sprengen, das Ich aus seinem Angelpunkt hängen, auf diese Weise mein Selbst verlieren und mich und die Welt und die Ewigkeit spüren. Fitz, Lisa (1951) klebend ich klebe an gott dem allmächtigen vater schöpfer himmels und aller verderbnis und an seinen in diese scheiße hineingeborenen sohn der zu sein ich selber mich wähne um mich schlagend um mein maul aus diesem meer von kot in die luft zu halten und immer noch atem zu kriegen warum nur weil ich ein von maßloser feigheit gesteuertes schwein bin unfähig willentlich unterzutauchen ins unausweichliche jandl, ernst (1925 - 2000) ALLTAG Ich erhebe mich. Ich kratze mich. Ich wasche mich. Ich ziehe mich an. Ich stärke mich. Ich begebe mich zur Arbeit. Ich informiere mich. Ich wundere mich. Ich ärgere mich. Ich beschwere mich. Ich rechtfertige mich. Ich reiße mich am Riemen. Ich entschuldige mich. Ich beeile mich. Ich verabschiede mich. Ich setze mich in ein Lokal. Ich sättige mich. Ich betrinke mich. Ich amüsiere mich etwas. Ich mache mich auf den Heimweg. Ich wasche mich. Ich ziehe mich aus. Ich fühle mich sehr müde. Ich lege mich schnell hin: Was soll aus mir mal werden, wenn ich mal nicht mehr bin? Gernhardt, Robert (1937 - 2006) NEGERGEDICHT ÜBER EINE WEISSE DAME Sie denkt, auch im Himmel könnte sie liegen Bleiben und bis mittags ruhn, während die schwarzen Engel um sieben aufstehen und den Singsang tun Countee, Cullen (1903 - 1946) so ein trost wer es nicht mehr ganz so gut kann wer es nicht mehr so ganz kann wer es nicht mehr so gut kann wer es nicht mehr ganz kann wer es nicht mehr gut kann wer es nicht mehr so kann wer es nicht mehr kann für den tun es andere ja für den tun es andere für den tun es ja andere für den tun es andere ja für den tun es ja andere ja ja für den tun es ja andere ja dutzendfach hundertfach tausendfach millionenfach ja millionenfach so ein trost jandl, ernst (1925 - 2000) HABE ICH ES SCHON GESAGT? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wech-seln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. - Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke Rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein. Die Straße war leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht. Rilke, Rainer Maria (1875 - 1926) aus: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge BEI GRÜNEM LEIBE Die Stadt und alles darin ist grün. In kürzester Zeit werden Reisende welche diese Stadt besuchen grün. Viele kommen aus fernen Ländern herbeigeeilt um grün zu werden. Einige bringen ihre Pferde und Hunde mit damit auch sie grün werden. Alle Bewohner dieser Stadt von einigen Ausnahmen abgesehen sind grasgrün und beneiden die wenigen die schon grün wie Tannenbäume sind. Nur ein Bewohner dieser Stadt wird nicht grün. Was würde er nicht alles geben, um grün zu werden! Er würde gerne täglich kleiner und kleiner werden wenn er nur grün wäre. Er leidet entsetzlich darunter und ist in einem Zustand größter Gereiztheit. Er zerschlägt sanfte grüne Pflanzen vor Eifersucht. Er ist untröstlich nicht grün zu sein. Bei grünem Leibe meint er wäre das Leben ein Kinderspiel. Arp, Hans (1887 - 1966) Ein Walroß wälzt im tiefen Meer Zwei Probleme hin und her. Seit gestern war ihm nicht ganz klar Wo es hergekommen war: Warum es den Namen Walroß trage Ward zur bohrend quälend Frage Für das dicke Meerestier. Warum Walroß und nicht - Stier? Wer gibt den Namen allen Dingen Wer läßt die Stimme so erklingen, Daß alles, was da säugt und schwimmt Durch Worte wurde einst bestimmt Zu sein gefälligst, wie benannt Als solch eins also jetzt bekannt Muß leben unter diesem Zeichen Ein jedes, bis es muß verbleichen. Das andere Problem des Viehs Auf das es gestern abend stieß War eng verknüpft mit erster Frage Und entsprang aus seiner Lage Zu ziehen seine Lebensbahn Am Strand nur und im Ozean. Warum kann ein Walroß bloß Nicht fliegen, wie ein Albatros? Das arme Tier, zu sich gekommen Plötzlich wurd es ihm beklommen In seiner dicken, trägen Haut. Und wie es da so um sich schaut Fließen Tränen in das Meer. Das Walroß weint, es kann nicht mehr nur einfach Walroß sein und froh. Von Stund an ist es nicht mehr so, Wie's früher war, Als noch nicht klar, Daß Unschuld nur zu haben ist, Wenn man immer nur - vergißt. Felix Quadflieg ICH BIN EIN SUCHER Ich bin ein Sucher Eines Weges. Zu allem was mehr ist Als Stoffwechsel Blutkreislauf Nahrungsaufnahme Zellenzerfall. Ich bin ein Sucher Eines Weges Der breiter ist Als ich. Nicht zu schmal. Kein Ein-Mann-Weg. Aber auch keine Staubige, tausendmal Überlaufene Bahn. Ich bin ein Sucher Eines Weges. Sucher eines Wegs Für mehr Als mich. Kunert, Günter (1929-2019) klos, sein da wo klos? du gehn rund den knödel du dann finden den türen sein drauf stehn "männeken" du dort treten innen du dort finden den rinnen du machen auf den hos du wissen was dann tun? ja ich wissen was dann tun. so ich gehn rund den knödel ich dann finden den türen sein drauf stehn "männeken" ich dort treten innen ich dort finden den rinnen ich machen auf den hos ich nix finden darinnen. rasch ich zumachen den hos rasch ich treten außen finden den türen neben sein drauf stehn "fraunen" sein ich erstaunen daß in mein leben das ich haben können vergessen. jandl, ernst (1925 - 2000) my own song ich will nicht sein so wie ihr mich wollt ich will nicht ihr sein so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr seid so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr sein wollt so wie ihr mich wollt nicht wie ihr mich wollt wie ich sein will will ich sein nicht wie ihr mich wollt wie ich bin will ich sein nicht wie ihr mich wollt wie ich will ich sein nicht wie ihr mich wollt ich will ich sein nicht wie ihr mich wollt will ich sein ich will sein. jandl, ernst (1925 - 2000) FALSCHSCHREIBUNG Pummerer, aus purer Freundlichkeit, Fragt auf der Straße die Leute oft nach der Zeit, Auch nach dem Datum oder nach dem Weg Und verschafft ihnen so Überlegenheit und Privileg, Sagt zu dem Vorsitzenden des Geschichtsvereins, Landgraf Karl sei 1602 gestorben (statt 1601), Oder schreibt beispielsweise das Wort 'Relieff' In einem Brief an Hauptlehrer Vogt mit Doppel-f! (Er verschafft so allen, wohlwollend und beflissen, Die tiefe Befriedigung, es besser zu wissen.) Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996) SEI FÜR NIEMANDEN LIEBKIND Sei für niemanden Liebkind; Sei geächtet. Nimm die Widersprüche Deines Lebens Und lege sie dir um Wie einen Schal Der dich vor Steinen Und der Kälte schützt. Sieh dir die Menschen an Wie sie voll Heiterkeit Dem Wahnsinn erliegen; Laß sie dich schief anschauen Und gib den schiefen Blick zurück. Sei geächtet; Geh froh allein (Nicht cool) Oder säume die überfüllten Flußbetten Gemeinsam mit anderen stürmischen Idioten. Veranstalte ein fröhliches Treffen Am Ufer Wo schon Tausende Wegen kühner verletzender Worte Die sie sagten umgekommen sind. Sei für niemanden Liebkind; Sei geächtet. Tauglich zum Leben Unter deinen Toten. Walker, Alice (1944) LEIDER MÜSSEN WIR Mit den Idioten Die Erdkugel teilen Es könnten vielleicht Mal alle Idioten Auf die eine Hälfte der Kugel gehen Wahrscheinlich Bliebe dann in der anderen Hälfte Nur ich übrig Sophie Warning DROHNE DIE BESTÄUBT Gleiches das betäubt Wirrung bin ich Finsternis Vage Wege ungewiß Gift gespitzter Pfeil gefährlich Tödlich manchmal unentbehrlich Nimm dich in acht nimm dich in acht Denn was da lacht Zerstören kann und Licht kann bringen Vernichten und emporsichschwingen Vorsicht: tappe nicht in Fallen! Hat's dich gepackt bist du verfallen Dem Rauschgift gleich verzehr ich dich "Flamme bin ich sicherlich" Felix Quadflieg ICH Ich stehe manchmal neben mir und sage freundlich DU zu mir und sag DU bist ein Exemplar wie keines jemals vor dir war DU bist der Stern der Sterne Das hör ich nämlich gerne Spohn, Jürgen (1934 - 1992) vermeide dein leben du bist ein mensch, verwandt der ratte. leugne gott. beginne nichts, damit du nichts beenden mußt. du hast dich nicht begonnen - du wurdest begonnen. du verendest, ob du willst oder nicht. glück ist: sich und die mutter bei der geburt zu töten. eines nur suche: deinen baldigen schmerzfreien tod. hilferufe beantworte durch taubheit. benütze dein denken zum vergessen von allem. liebe streiche aus deinem vokabular. verbrenne dein wörterbuch. atme dich zu tode. jandl, ernst (1925 - 2000) NIEMAND Ich bin König Niemand trage mein Niemandsland in der Tasche Mit Fremdenpaß reise ich von Meer zu Meer Wasser deine blauen deine schwarzen Augen die farblosen Mein Pseudonym Niemand ist legitim Niemand argwöhnt daß ich ein König bin und in der Tasche trage mein heimatloses Land Ausländer, Rose (1901 - 1988) AUGENBLICK Ich will mich für nichts mehr bewahren, Was noch kommen könnte, Und will an mir nicht mehr sparen. Was ich mir bisher nicht gönnte: Die lässige Hingabe an den Tag, Die gönne ich mir nun endlich. Und alles ändert sich mit einem Schlag. Ich leb nicht mehr überwendlich. Ich freue mich, daß ich die Freiheit habe, In der Frühe durch diesen Schnee zu gehn, Und daß ich dem Schnee meine Spuren eingrabe, Und daß mich das Licht und die Kälte anwehn. Da ist das Geheimnis des Glückes entsiegelt: Der Augenblick kennt kein Ungemach. Und wie sich rötlich der Himmel spiegelt Im schwarz unterm Schnee verrinnenden Bach! Ich habe zuviel von Erwartung gelebt. Und Fäden zu fremden Menschen gesponnen. Und aus diesen Fäden Träume gewebt. Und immer von neuem die Hoffnung begonnen, Daß etwas in der Ferne geschieht, Das bis zu mir herüberreicht Und mich zu sich hinüberzieht, Etwas, das nichts auf Erden gleicht. Jetzt akzeptiere ich mein Geschick Und seine Ganzalltäglichkeit. Und ich begreife den Augenblick Als meinen Anteil an der Zeit. Strittmatter, Eva (1930-2011) LIED DES EINFACHEN MENSCHEN Menschen sind wir einst vielleicht gewesen Oder werden's eines Tages sein, Wenn wir gründlich von all dem genesen. Aber sind wir heute Menschen? Nein! Wir sind der Name auf dem Reisepaß, Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas, Wir sind das Echo eines Phrasenschwalls Und Widerhall des toten Widerhalls. Längst ist alle Menschlichkeit zertreten, Wahren wir doch nicht den leeren Schein! Wir, in unsern tief entmenschten Städten, Sollen uns noch Menschen nennen? Nein! Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt, Wir sind die Nummer im Katasterblatt, Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt Und unsre eignen Schatten allesamt. Soll der Mensch in uns sich einst befreien, Gibt's dafür ein Mittel nur allein: Stündlich fragen, ob wir Menschen seien, Stündlich uns die Antwort geben: Nein! Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt. Ein armer Vorklang nur zum großen Lied. Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit! Soyfer, Jura (1912 - 1939) DAS LEBEN EINES JEDEN MENSCHEN VERDIENT ES, AUFGESCHRIEBEN ZU WERDEN! HERR S.: GEBURT KINDHEIT JUGEND KRIEG AUSBILDUNG HEIRAT ARBEIT SEIN GROßVATER O.: GEBURT KINDHEIT KRIEG HEIRAT ARBEIT KRIEG ARBEIT PENSION TOD DESSEN FRAU G.: GEBURT KINDHEIT KRIEG HEIRAT MUTTERSCHAFT KRIEG ARBEIT TOD HERRN S.' TOCHTER I.: GEBURT KINDHEIT JUGEND AUSBILDUNG DEREN FREUND H.: GEBURT KINDHEIT JUGEND ARBEIT DESSEN BRUDER M.: GEBURT KINDHEIT TOD M.s TANTE L.: GEBURT KINDHEIT JUGEND KRIEG MUTTERSCHAFT ARBEIT PENSION L.s SCHWESTER, GEBURT MUTTER VON H. UND M.: KINDHEIT JUGEND KRIEG HEIRAT AUSBILDUNG MUTTERSCHAFT ARBEIT Sophie Warning begebenheit fünf jahrzehnte gelebt und nichts zu berichten sich verkriechen bei tisch wenn ein junger erzählt und erzählt jandl, ernst (1925 - 2000) NACHTGESANG badedas placentubex tai-ginseng panteen thermofax wipp dentofix anti-svet palmin mondamin elastofix fewa fa feh vlot seiblank presto caro lux maggi pez blett pott alka-seltzer seborin mem pitrell grill-fix tempo mampe aspirin tampax atrix drix hormocenta kukident knorr pfaff tarr darmol odorono chlorodont fuß-frisch bac odol mezzo-slabil wazzaba abba dabba wabbaba f-x k2r T 2 E = mc² Jelinek, Henry (1946) glückwunsch wir alle wünschen jedem alles gute: daß der gezielte schlag ihn just verfehle; daß er, getroffen zwar, sichtbar nicht blute; daß blutend wohl, er keinesfalls verblute; daß, falls verblutend, er nicht schmerz empfinde; daß er, von schmerz zerfetzt, zurück zur stelle finde wo er den ersten falschen schritt noch nicht gesetzt - wir jeder wünschen allen alles gute jandl, ernst (1925 - 2000) Wie kann man... Wie kann man Gedichte machen Lauter als die Schreie der Verwundeten Tiefer als die Nacht der Hungernden Leiser als der Atem von Mund zu Mund Härter als Leben Weich wie Wasser, das den Stein überlebt? Wie kann man keine Gedichte machen? Müller, Inge (1925-1956) Mutter Sprache Ich habe mich in mich verwandelt von Augenblick zu Augenblick in Stücke zersplittert auf dem Wortweg Mutter Sprache setzt mich zusammen Menschmosaik Ausländer, Rose (1901 - 1988) In mir ist alles aufgeräumt Ich freu mich, daß am Himmel Wolken ziehen Und daß es regnet, hagelt, friert und schneit. Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit, Wenn Heckenrosen und Holunder blühen. Daß Amseln flöten und daß Immen summen, Daß Mücken stechen und daß Brummer brummen. Daß rote Luftballons ins Blaue steigen. Daß Spatzen schwatzen. Und daß Fische schweigen. Ich freu mich, daß der Mond am Himmel steht Und daß die Sonne täglich neu aufgeht. Daß Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter, gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter, Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn. Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn! Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn. Ich freue mich vor allem, daß ich bin. In mir ist alles aufgeräumt und heiter: Die Diele blitzt, das Feuer ist geschürt. An solchen Tagen erklettert man die Leiter, Die von der Erde in den Himmel führt. Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, - Weil er sich selber liebt - den Nächsten lieben. Ich freue mich, daß ich mich an das Schöne Und an das Wunder niemals ganz gewöhne. Daß alles so erstaunlich bleibt, und neu! Ich freu mich, daß ich ... Daß ich mich freu. Kaléko, Mascha (1912 - 1974) Tage wie Vögel Tage wie Vögel und locker wie junges Haar. Auf den Stufen hüpft Regen und malt seine flüchtigen Zeichen. Er spielt mit der Sonne. Bald wird sie dein Fenster erreichen und steigt dir ins Zimmer, das lange voll Schatten war. Busta, Christine (1915-1987) Von der großen Bedürftigkeit Der Mensch, den wir am meisten lieben, ist oft der Fernste, nicht unser Nächster. Aber wir haben auch einen Nächsten, den der uns gerade jetzt braucht, dem wir der nächste werden könnten, wenn wir uns nicht versagen. Am ärmsten bleibt, der nur sich selber der Nächste ist, am reichsten, wer sich vom Fernsten noch fordern lässt. Er nimmt an der Bedürftigkeit Gottes teil. Busta, Christine (1915-1987) Hybris Wir sind nicht mehr die gleichen. Uns ätzte das Leben leer. Es gibt keine mystischen Zeichen, es gibt kein Geheimnis mehr. Wir treiben durch luftlose Räume, erloschenen Angesichts. Die Nächte verweigern uns Träume, die Sterne sagen uns nichts. Wir haben den Himmel zertrümmert. Das Weltall umklammert uns kalt. Der Tod läßt uns unbekümmert. Wir haben Gewalt. Nick, Dagmar (1926) so erhältlich so erhältlich weltlich ganz befremdlich begehrlich durchaus ehrlich verderblich und zärtlich unermüdlich gefährlich betulich vermutlich ich, ich, ich Sophie Warning Die Liebe hat einen Triumph Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, die Zeit und die Zeit danach. Wir haben keinen. Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. Doch das Lied überm Staub danach wird uns übersteigen. Bachmann, Ingeborg (1926 - 1973) Geräumig und gediegen Ja, sich an die Natur zu schmiegen, Ist edlen Seelen Hochgenuss; Sie ist geräumig und gediegen, Wie jeder anerkennen muss, Und bietet uns zu allen Zeiten Poet'sche Sehenswürdigkeiten. Kempner, Friederike (1828-1904) Die Angst Die Angst zu verlieren was man nicht wollte weil da doch die Angst war es zu verlieren oder die Angst ausgerechnet durch Angst zu verlieren was man nicht will weil da die Angst ist zu verlieren was man nie hat Cantiéni, Benita Also doch...? Wenn der holde Frühling lenzt Und man sich mit Veilchen kränzt, Wenn man sich mit festem Mut Schnittlauch in das Rührei tut, Kreisen durch des Menschen Säfte Neue, ungeahnte Kräfte - Jegliche Verstopfung weicht, Alle Herzen werden leicht, Und das meine fragt sich still: "ob mich dies Jahr einer will?" Kempner, Friederike (1828-1904) Nicht müde werden Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten. Domin, Hilde (1912 - 2006) Tanz Ich wollte auferstehen, also übte ich mich im Tanz, wobei es mir manchmal gelang, auf dem Kopf zu stehen, jedenfalls immer leichter zu werden, was zur Folge hatte, dass auch die Dinge leichter zu werden und zu tanzen begannen. Ich habe solche Zeiten, Tanzzeiten schon früher gehabt, was ganz wörtlich zu verstehen ist, Tanzbewegungen nach Radiomusik Vor dem Schlafengehen, auch oder gerade in den bedrohlichsten Lagen, aber auch unwörtlich als einen Zustand des Gleitens und Schwebens, auch des inneren Lächelns, das weit entfernt von einer verbissenen Gottsuche mich doch am nächsten zu dem hingeführt hat, was den Gläubigen als Gegenwart Gottes erscheint. Kaschnitz, Marie Luise (1901-1974) Abschied das licht starb da starb auch die finsternis die erde zerfiel da fiel auch die wolke das meer versank da schwand auch der wind der engel ging hin da ging auch der tod Borchers, Elisabeth (1926-2013) Memento Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? Allein im Nebel tast ich todentlang Und lass mich willig in das Dunkel treiben. Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben. Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr; Und die es trugen, mögen mir vergeben. Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben. Kaléko, Mascha (1912 - 1974) Klar Eins ist mir klar zu jeder Frist: Das Leben ist so, wie es ist! Denn selbst, wenn's würde anders sein, Stimmt's mit sich selber überein, So dass man dann auch sagen müsst: Das Leben ist so, wie es ist. Kempner, Friederike (1828-1904) Taufe Lauf mit der Schönheit des Lebens um die Wette, und mit den rasenden Herzen im Galopp! Spring! Spring! Flieg der Sonne entgegen und über sie hinaus. Tropfen sprenkeln die hitzige Stirn. Segensquell. Gern gegeben. Perlen der Freude. Sophie Warning Mein schönstes Gedicht Mein schönstes Gedicht ich schrieb es nicht. Aus tiefsten Tiefen stieg es, ich schwieg es. Kaléko, Mascha (1912 - 1974) |