identities "identities"



Lesung mit Gedichten und Texten zum Thema Identität

anläßlich der Ausstellung "identities" Papierfaltungen von Sylvia Händel im Institut Français, Juni 2001




SELBSTLOS

Ich will mich in tausend Spiegeln besehn
und mich vor mir selber wenden und drehn.
Ich will mich teilen, zersplittern, zerfließen
und mich in jede Form neu wieder gießen.
Ich will die gepanzerte Seele sprengen,
das Ich aus seinem Angelpunkt hängen,
auf diese Weise mein Selbst verlieren
und mich und die Welt und die Ewigkeit spüren.

Fitz, Lisa (1951)




klebend

ich klebe an gott dem allmächtigen vater
schöpfer himmels und aller verderbnis
und an seinen in diese scheiße hineingeborenen sohn
der zu sein ich selber mich wähne um mich schlagend
um mein maul aus diesem meer von kot in die luft zu halten
und immer noch atem zu kriegen warum nur
weil ich ein von maßloser feigheit gesteuertes schwein bin
unfähig willentlich unterzutauchen ins unausweichliche

jandl, ernst (1925 - 2000)




ALLTAG

Ich erhebe mich.
Ich kratze mich.
Ich wasche mich.
Ich ziehe mich an.
Ich stärke mich.
Ich begebe mich zur Arbeit.
Ich informiere mich.
Ich wundere mich.
Ich ärgere mich.
Ich beschwere mich.
Ich rechtfertige mich.
Ich reiße mich am Riemen.
Ich entschuldige mich.
Ich beeile mich.
Ich verabschiede mich.
Ich setze mich in ein Lokal.
Ich sättige mich.
Ich betrinke mich.
Ich amüsiere mich etwas.
Ich mache mich auf den Heimweg.
Ich wasche mich.
Ich ziehe mich aus.
Ich fühle mich sehr müde.
Ich lege mich schnell hin:

Was soll aus mir mal werden,
wenn ich mal nicht mehr bin?

Gernhardt, Robert (1937 - 2006)




NEGERGEDICHT ÜBER EINE WEISSE DAME

Sie denkt, auch im Himmel könnte sie liegen Bleiben und bis mittags ruhn, während die schwarzen Engel um sieben aufstehen und den Singsang tun

Countee, Cullen (1903 - 1946)






so ein trost

wer es nicht mehr ganz so gut kann
wer es nicht mehr so ganz kann
wer es nicht mehr so gut kann
wer es nicht mehr ganz kann
wer es nicht mehr gut kann
wer es nicht mehr so kann
wer es nicht mehr kann

für den tun es andere
ja für den tun es andere
für den tun es ja andere
für den tun es andere ja
für den tun es ja andere ja
ja für den tun es ja andere ja

dutzendfach
hundertfach
tausendfach
millionenfach
ja
millionenfach
so ein trost

jandl, ernst (1925 - 2000)




HABE ICH ES SCHON GESAGT? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wech-seln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. - Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke Rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein. Die Straße war leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.

Rilke, Rainer Maria (1875 - 1926)
aus: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge



BEI GRÜNEM LEIBE

Die Stadt und alles darin ist grün.
In kürzester Zeit werden Reisende
welche diese Stadt besuchen grün.
Viele kommen aus fernen Ländern herbeigeeilt
um grün zu werden.
Einige bringen ihre Pferde und Hunde mit
damit auch sie grün werden.
Alle Bewohner dieser Stadt
von einigen Ausnahmen abgesehen
sind grasgrün und beneiden die wenigen
die schon grün wie Tannenbäume sind.
Nur ein Bewohner dieser Stadt wird nicht grün.
Was würde er nicht alles geben, um grün zu werden!
Er würde gerne täglich kleiner und kleiner werden
wenn er nur grün wäre.
Er leidet entsetzlich darunter
und ist in einem Zustand größter Gereiztheit.
Er zerschlägt sanfte grüne Pflanzen vor Eifersucht.
Er ist untröstlich
nicht grün zu sein.
Bei grünem Leibe
meint er
wäre das Leben ein Kinderspiel.

Arp, Hans (1887 - 1966)




Ein Walroß wälzt im tiefen Meer
Zwei Probleme hin und her.
Seit gestern war ihm nicht ganz klar
Wo es hergekommen war:
Warum es den Namen Walroß trage
Ward zur bohrend quälend Frage
Für das dicke Meerestier.
Warum Walroß und nicht - Stier?
Wer gibt den Namen allen Dingen
Wer läßt die Stimme so erklingen,
Daß alles, was da säugt und schwimmt
Durch Worte wurde einst bestimmt
Zu sein gefälligst, wie benannt
Als solch eins also jetzt bekannt
Muß leben unter diesem Zeichen
Ein jedes, bis es muß verbleichen.
Das andere Problem des Viehs
Auf das es gestern abend stieß
War eng verknüpft mit erster Frage
Und entsprang aus seiner Lage
Zu ziehen seine Lebensbahn
Am Strand nur und im Ozean.
Warum kann ein Walroß bloß
Nicht fliegen, wie ein Albatros?
Das arme Tier, zu sich gekommen
Plötzlich wurd es ihm beklommen
In seiner dicken, trägen Haut.
Und wie es da so um sich schaut
Fließen Tränen in das Meer.
Das Walroß weint, es kann nicht mehr
nur einfach Walroß sein und froh.
Von Stund an ist es nicht mehr so,
Wie's früher war,
Als noch nicht klar,
Daß Unschuld nur zu haben ist,
Wenn man immer nur - vergißt.

Felix Quadflieg



ICH BIN EIN SUCHER

Ich bin ein Sucher
Eines Weges.
Zu allem was mehr ist
Als
Stoffwechsel
Blutkreislauf
Nahrungsaufnahme
Zellenzerfall.

Ich bin ein Sucher
Eines Weges
Der breiter ist
Als ich.

Nicht zu schmal.
Kein Ein-Mann-Weg.
Aber auch keine
Staubige, tausendmal
Überlaufene Bahn.

Ich bin ein Sucher
Eines Weges.
Sucher eines Wegs
Für mehr
Als mich.

Kunert, Günter (1929-2019)




klos, sein da wo klos?
du gehn rund den knödel
du dann finden den türen
sein drauf stehn "männeken"
du dort treten innen
du dort finden den rinnen
du machen auf den hos
du wissen was dann tun?
ja ich wissen was dann tun.
so ich gehn rund den knödel
ich dann finden den türen
sein drauf stehn "männeken"
ich dort treten innen
ich dort finden den rinnen
ich machen auf den hos
ich nix finden darinnen.
rasch ich zumachen den hos
rasch ich treten außen
finden den türen neben
sein drauf stehn "fraunen"
sein ich erstaunen
daß in mein leben das
ich haben können vergessen.

jandl, ernst (1925 - 2000)




my own song

ich will nicht sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht ihr sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr seid
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr sein wollt
so wie ihr mich wollt

nicht wie ihr mich wollt
wie ich sein will will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich bin will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt will ich sein
ich will sein.

jandl, ernst (1925 - 2000)




FALSCHSCHREIBUNG

Pummerer, aus purer Freundlichkeit,
Fragt auf der Straße die Leute oft nach der Zeit,
Auch nach dem Datum oder nach dem Weg
Und verschafft ihnen so Überlegenheit und Privileg,
Sagt zu dem Vorsitzenden des Geschichtsvereins,
Landgraf Karl sei 1602 gestorben (statt 1601),
Oder schreibt beispielsweise das Wort 'Relieff'
In einem Brief an Hauptlehrer Vogt mit Doppel-f!
(Er verschafft so allen, wohlwollend und beflissen,
Die tiefe Befriedigung, es besser zu wissen.)

Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996)




SEI FÜR NIEMANDEN LIEBKIND

Sei für niemanden Liebkind;
Sei geächtet.
Nimm die Widersprüche
Deines Lebens
Und lege sie dir um
Wie einen Schal
Der dich vor Steinen
Und der Kälte schützt.

Sieh dir die Menschen an
Wie sie voll Heiterkeit
Dem Wahnsinn erliegen;
Laß sie dich schief anschauen
Und gib den schiefen Blick zurück.

Sei geächtet;
Geh froh allein
(Nicht cool)
Oder säume die überfüllten
Flußbetten
Gemeinsam mit anderen stürmischen
Idioten.

Veranstalte ein fröhliches Treffen
Am Ufer
Wo schon Tausende
Wegen kühner verletzender Worte
Die sie sagten umgekommen sind.

Sei für niemanden Liebkind;
Sei geächtet.
Tauglich zum Leben
Unter deinen Toten.

Walker, Alice (1944)




LEIDER MÜSSEN WIR
Mit den Idioten
Die Erdkugel teilen

Es könnten vielleicht
Mal alle Idioten
Auf die eine Hälfte der Kugel gehen

Wahrscheinlich
Bliebe dann in der anderen Hälfte
Nur ich übrig

Sophie Warning



DROHNE DIE BESTÄUBT

Gleiches das betäubt
Wirrung bin ich Finsternis
Vage Wege ungewiß
Gift gespitzter Pfeil gefährlich
Tödlich manchmal unentbehrlich
Nimm dich in acht nimm dich in acht
Denn was da lacht
Zerstören kann und Licht kann bringen
Vernichten und emporsichschwingen
Vorsicht: tappe nicht in Fallen!
Hat's dich gepackt bist du verfallen
Dem Rauschgift gleich verzehr ich dich
"Flamme bin ich sicherlich"

Felix Quadflieg



ICH

Ich stehe
manchmal
neben mir
und sage
freundlich
DU zu mir
und sag
DU bist
ein Exemplar
wie keines
jemals
vor dir war
DU bist
der Stern
der Sterne
Das hör ich
nämlich gerne

Spohn, Jürgen (1934 - 1992)




vermeide dein leben

du bist ein mensch, verwandt der ratte.
leugne gott.
beginne nichts, damit du nichts beenden mußt.
du hast dich nicht begonnen - du wurdest begonnen.
du verendest, ob du willst oder nicht.
glück ist: sich und die mutter bei der geburt zu töten.
eines nur suche: deinen baldigen schmerzfreien tod.
hilferufe beantworte durch taubheit.
benütze dein denken zum vergessen von allem.
liebe streiche aus deinem vokabular.
verbrenne dein wörterbuch.
atme dich zu tode.

jandl, ernst (1925 - 2000)




NIEMAND

Ich bin König Niemand
trage mein Niemandsland
in der Tasche

Mit Fremdenpaß reise ich
von Meer zu Meer

Wasser deine blauen
deine schwarzen Augen
die farblosen

Mein Pseudonym
Niemand
ist legitim

Niemand argwöhnt daß
ich ein König bin
und in der Tasche trage
mein heimatloses Land

Ausländer, Rose (1901 - 1988)




AUGENBLICK

Ich will mich für nichts mehr bewahren,
Was noch kommen könnte,
Und will an mir nicht mehr sparen.
Was ich mir bisher nicht gönnte:
Die lässige Hingabe an den Tag,
Die gönne ich mir nun endlich.
Und alles ändert sich mit einem Schlag.
Ich leb nicht mehr überwendlich.
Ich freue mich, daß ich die Freiheit habe,
In der Frühe durch diesen Schnee zu gehn,
Und daß ich dem Schnee meine Spuren eingrabe,
Und daß mich das Licht und die Kälte anwehn.
Da ist das Geheimnis des Glückes entsiegelt:
Der Augenblick kennt kein Ungemach.
Und wie sich rötlich der Himmel spiegelt
Im schwarz unterm Schnee verrinnenden Bach!
Ich habe zuviel von Erwartung gelebt.
Und Fäden zu fremden Menschen gesponnen.
Und aus diesen Fäden Träume gewebt.
Und immer von neuem die Hoffnung begonnen,
Daß etwas in der Ferne geschieht,
Das bis zu mir herüberreicht
Und mich zu sich hinüberzieht,
Etwas, das nichts auf Erden gleicht.
Jetzt akzeptiere ich mein Geschick
Und seine Ganzalltäglichkeit.
Und ich begreife den Augenblick
Als meinen Anteil an der Zeit.

Strittmatter, Eva (1930-2011)




LIED DES EINFACHEN MENSCHEN

Menschen sind wir einst vielleicht gewesen
Oder werden's eines Tages sein,
Wenn wir gründlich von all dem genesen.
Aber sind wir heute Menschen? Nein!

Wir sind der Name auf dem Reisepaß,
Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas,
Wir sind das Echo eines Phrasenschwalls
Und Widerhall des toten Widerhalls.

Längst ist alle Menschlichkeit zertreten,
Wahren wir doch nicht den leeren Schein!
Wir, in unsern tief entmenschten Städten,
Sollen uns noch Menschen nennen? Nein!

Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt,
Wir sind die Nummer im Katasterblatt,
Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt
Und unsre eignen Schatten allesamt.

Soll der Mensch in uns sich einst befreien,
Gibt's dafür ein Mittel nur allein:
Stündlich fragen, ob wir Menschen seien,
Stündlich uns die Antwort geben: Nein!

Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild
Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.
Ein armer Vorklang nur zum großen Lied.
Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!

Soyfer, Jura (1912 - 1939)




DAS LEBEN EINES JEDEN MENSCHEN VERDIENT ES, AUFGESCHRIEBEN ZU WERDEN!


HERR S.: GEBURT
KINDHEIT
JUGEND
KRIEG
AUSBILDUNG
HEIRAT
ARBEIT

SEIN GROßVATER O.: GEBURT
KINDHEIT
KRIEG
HEIRAT
ARBEIT
KRIEG
ARBEIT
PENSION
TOD

DESSEN FRAU G.: GEBURT
KINDHEIT
KRIEG
HEIRAT
MUTTERSCHAFT
KRIEG
ARBEIT
TOD

HERRN S.' TOCHTER I.: GEBURT
KINDHEIT
JUGEND
AUSBILDUNG

DEREN FREUND H.: GEBURT
KINDHEIT
JUGEND
ARBEIT

DESSEN BRUDER M.: GEBURT
KINDHEIT
TOD

M.s TANTE L.: GEBURT
KINDHEIT
JUGEND
KRIEG
MUTTERSCHAFT
ARBEIT
PENSION

L.s SCHWESTER, GEBURT
MUTTER VON H. UND M.: KINDHEIT
JUGEND
KRIEG
HEIRAT
AUSBILDUNG
MUTTERSCHAFT
ARBEIT

Sophie Warning



begebenheit

fünf
jahrzehnte
gelebt
und nichts
zu berichten

sich verkriechen
bei tisch
wenn ein junger
erzählt
und erzählt

jandl, ernst (1925 - 2000)




NACHTGESANG

badedas placentubex
tai-ginseng panteen
thermofax wipp dentofix
anti-svet palmin

mondamin elastofix
fewa fa feh vlot
seiblank presto caro lux
maggi pez blett pott

alka-seltzer seborin
mem pitrell grill-fix
tempo mampe aspirin
tampax atrix drix

hormocenta kukident
knorr pfaff tarr darmol
odorono chlorodont
fuß-frisch bac odol

mezzo-slabil wazzaba
abba dabba wabbaba
f-x k2r T 2
E = mc²

Jelinek, Henry (1946)




glückwunsch

wir alle wünschen jedem alles gute:
daß der gezielte schlag ihn just verfehle;
daß er, getroffen zwar, sichtbar nicht blute;
daß blutend wohl, er keinesfalls verblute;
daß, falls verblutend, er nicht schmerz empfinde;
daß er, von schmerz zerfetzt, zurück zur stelle finde
wo er den ersten falschen schritt noch nicht gesetzt -
wir jeder wünschen allen alles gute

jandl, ernst (1925 - 2000)




Wie kann man...

Wie kann man Gedichte machen
Lauter als die Schreie der Verwundeten
Tiefer als die Nacht der Hungernden
Leiser als der Atem von Mund zu Mund
Härter als Leben Weich wie Wasser, das den Stein überlebt?

Wie kann man keine Gedichte machen?

Müller, Inge (1925-1956)




Mutter Sprache
Ich habe mich
in mich verwandelt
von Augenblick zu Augenblick
in Stücke zersplittert
auf dem Wortweg
Mutter Sprache
setzt mich zusammen
Menschmosaik

Ausländer, Rose (1901 - 1988)




In mir ist alles aufgeräumt
Ich freu mich, daß am Himmel Wolken ziehen
Und daß es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
Daß Amseln flöten und daß Immen summen,
Daß Mücken stechen und daß Brummer brummen.
Daß rote Luftballons ins Blaue steigen.
Daß Spatzen schwatzen. Und daß Fische schweigen.

Ich freu mich, daß der Mond am Himmel steht
Und daß die Sonne täglich neu aufgeht.
Daß Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, daß ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt, das Feuer ist geschürt.
An solchen Tagen erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
- Weil er sich selber liebt - den Nächsten lieben.
Ich freue mich, daß ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Daß alles so erstaunlich bleibt, und neu!

Ich freu mich, daß ich ...
Daß ich mich freu.

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)




Tage wie Vögel

Tage wie Vögel und
locker wie junges Haar.
Auf den Stufen hüpft Regen
und malt seine flüchtigen Zeichen.

Er spielt mit der Sonne.
Bald wird sie dein Fenster erreichen
und steigt dir ins Zimmer,
das lange voll Schatten war.

Busta, Christine (1915-1987)


Von der großen Bedürftigkeit

Der Mensch, den wir am meisten lieben,
ist oft der Fernste, nicht unser Nächster.
Aber wir haben auch einen Nächsten,
den der uns gerade jetzt braucht,
dem wir der nächste werden könnten,
wenn wir uns nicht versagen.
Am ärmsten bleibt,
der nur sich selber der Nächste ist,
am reichsten, wer sich vom Fernsten
noch fordern lässt.

Er nimmt
an der Bedürftigkeit Gottes teil.

Busta, Christine (1915-1987)




Hybris

Wir sind nicht mehr die gleichen.
Uns ätzte das Leben leer.
Es gibt keine mystischen Zeichen,
es gibt kein Geheimnis mehr.

Wir treiben durch luftlose Räume,
erloschenen Angesichts.
Die Nächte verweigern uns Träume,
die Sterne sagen uns nichts.

Wir haben den Himmel zertrümmert.
Das Weltall umklammert uns kalt.
Der Tod läßt uns unbekümmert.
Wir haben Gewalt.

Nick, Dagmar (1926)




so erhältlich

so erhältlich weltlich
ganz befremdlich begehrlich
durchaus ehrlich verderblich und zärtlich
unermüdlich gefährlich
betulich vermutlich

ich, ich, ich

Sophie Warning



Die Liebe hat einen Triumph

Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen,
die Zeit und die Zeit danach.
Wir haben keinen.

Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen.
Doch das Lied überm Staub danach
wird uns übersteigen.

Bachmann, Ingeborg (1926 - 1973)




Geräumig und gediegen

Ja, sich an die Natur zu schmiegen,
Ist edlen Seelen Hochgenuss;
Sie ist geräumig und gediegen,
Wie jeder anerkennen muss,
Und bietet uns zu allen Zeiten
Poet'sche Sehenswürdigkeiten.

Kempner, Friederike (1828-1904)




Die Angst

Die Angst
zu verlieren
was man nicht wollte
weil da doch die Angst
war
es zu verlieren
oder
die Angst
ausgerechnet durch Angst
zu verlieren
was man nicht will
weil da die Angst
ist
zu verlieren
was man nie hat

Cantiéni, Benita




Also doch...?

Wenn der holde Frühling lenzt
Und man sich mit Veilchen kränzt,
Wenn man sich mit festem Mut
Schnittlauch in das Rührei tut,
Kreisen durch des Menschen Säfte
Neue, ungeahnte Kräfte - Jegliche Verstopfung weicht,
Alle Herzen werden leicht,
Und das meine fragt sich still:
"ob mich dies Jahr einer will?"

Kempner, Friederike (1828-1904)




Nicht müde werden

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise wie einem Vogel
die Hand hinhalten.

Domin, Hilde (1912 - 2006)




Tanz

Ich wollte auferstehen,
also übte ich mich im Tanz,
wobei es mir manchmal gelang,
auf dem Kopf zu stehen,
jedenfalls immer leichter zu werden,
was zur Folge hatte,
dass auch die Dinge leichter zu werden
und zu tanzen begannen.

Ich habe solche Zeiten,
Tanzzeiten
schon früher gehabt,
was ganz wörtlich zu verstehen ist,
Tanzbewegungen nach Radiomusik
Vor dem Schlafengehen,
auch oder gerade
in den bedrohlichsten Lagen,
aber auch unwörtlich
als einen Zustand des Gleitens und Schwebens,
auch des inneren Lächelns,
das weit entfernt
von einer verbissenen Gottsuche
mich doch am nächsten
zu dem hingeführt hat, was den Gläubigen
als Gegenwart Gottes erscheint.

Kaschnitz, Marie Luise (1901-1974)




Abschied

das licht starb
da starb auch die finsternis

die erde zerfiel
da fiel auch die wolke

das meer versank
da schwand auch der wind

der engel ging hin
da ging auch der tod


Borchers, Elisabeth (1926-2013)




Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben.

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)




Klar

Eins ist mir klar zu jeder Frist:
Das Leben ist so, wie es ist!
Denn selbst, wenn's würde anders sein,
Stimmt's mit sich selber überein,
So dass man dann auch sagen müsst:
Das Leben ist so, wie es ist.

Kempner, Friederike (1828-1904)




Taufe

Lauf mit der Schönheit des Lebens
um die Wette,
und mit den rasenden Herzen
im Galopp!
Spring! Spring!
Flieg der Sonne entgegen
und über sie hinaus.
Tropfen sprenkeln die hitzige Stirn.
Segensquell.
Gern gegeben.
Perlen der Freude.

Sophie Warning



Mein schönstes Gedicht

Mein schönstes Gedicht
ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es,
ich schwieg es.

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)