texte
"kunst macht dumm"
Lesung mit Gedichten und Texten von
Robert Gernhardt (1937-2006)
und
ernst jandl (1925 - 2000)
mit einer Zugabe von
Otto Heinrich Kühner (1921)
im Rahmen der "Müßigen Tage 2002"
vom 27. Mai - 18. Juni 2002
in Bremen
Robert Gernhardt:
EIN GEGLÜCKTER AUFTAKT
Wieder einmal war die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung Stätte einer fruchtbaren Begegnung. Nachdem Frankfurter Dichter in einer Rüsselsheimer Fabrikhalle aus neueren Arbeiten gelesen hatten, beschloß der Betriebsrat des Werks, den Literaten zum Dank einmal etwas vorzuarbeiten.
Drei Arbeiter stellten sich im festlich geschmückten Tagungsraum der Akademie vor. Den Anfang machte der Dreher Karl Henne, dessen präzise Arbeit an der Drehbank die versammelten Dichter sichtlich beeindruckte. Sein Werk, ein Messingknauf mit abschraubbarer Tülle, löste dann auch spontanen Beifall aus.
Der Schweißer Karl Boltmann, der anschließend einen handgezogenen Achsschenkelbolzen herstellte, erregte anfangs ebenfalls reges Interesse, das allerdings im Verlauf der drei Stunden andauernden Arbeit sichtlich abflaute.
Unter diesen Umständen hatte es der Monteur Willy Nemenz schwer. Seine exakt vorgeführte Montage eines Viertakt-Motors stieß auf weitgehendes Unverständnis, das sich sogar in zaghaften Zwischenrufen äußerte.
Interessant wurde es dann wieder bei der anschließenden Diskussion. Nach anfänglicher Zurückhaltung brach der Dichter Kurt Mandl das Eis. Der erste Beitrag sei prima gewesen, erklärte er, unter einem Messingknauf könne er sich etwas vorstellen. Bei der Montage sei er allerdings nicht mehr mitgekommen. Ob denn die Maschinen von heute wirklich so kompliziert sein müßten, daß nur noch Spezialisten sie verstehen könnten?
Ein anregendes Streitgespräch folgte, das Betriebsrat Kornmayer mit den Worten beendete: "Eines steht fest: Die fortschreitende Technisierung aller Lebensbereiche hat auch vor den Fabriken nicht haltgemacht. Sie ist ebenfalls und gerade an den Maschinen nicht spurlos vorübergegangen - Sie als Dichter sollten diese Erkenntnis mit in Ihren Alltag hinübernehmen."
Akademie-Präsident Wendell äußerte sich in ähnlicher Richtung und dankte den Arbeitern für die frohen und nachdenklichen Stunden, die sie den Dichtern bereitet hatten. Beide Seiten beschlossen, die Kontakte weiter auszubauen. Schon im Frühjahr wollen Frankfurter Dichter Steigern auf der 800-Meter-Sohle der Zeche "Glückrunter" etwas vorlesen. Aus Steigerkreisen verlautet bereits jetzt, daß man diesen Schritt mit dem Bau eines Förderturmes im Garten des Frankfurter Goethe-Hauses beantworten wolle.
WAS IST KUNST
Hab'n Sie was mit Kunst am Hut?
Gut.
Denn ich möchte Ihnen allen
etwas auf den Wecker fallen.
Kunst ist was?
Das:
Kunst, das meint vor allen Dingen
andren Menschen Freude bringen
und aus vollen Schöpferhänden
Spaß bereiten, Frohsinn spenden,
denn die Kunst ist eins und zwar
heiter. Und sonst gar nichts. Klar?
Ob das klar ist? Sie ist heiter!
Heiter und sonst gar nichts weiter!
Heiter ist sie! Wird es bald?
Heiter! Hab'n Sie das geschnallt?
Ja? Dann folgt das Resümee;
bitte sehr:
Obenstehendes ist zwar
alles Lüge, gar nicht wahr,
und ich meine es auch bloß
irgendwie als Denkanstoß -
aber wenn es jemand glaubt:
ist erlaubt.
Mag ja sein, daß wer das mag.
Guten Tag.
DEUTUNG EINES ALLEGORISCHEN GEMÄLDES
Fünf Männer seh ich
inhaltsschwer -
wer sind die fünf?
Wofür steht wer?
Des ersten Wams strahlt
blutigrot -
das ist der Tod
das ist der Tod
Der zweite hält die
Geißel fest -
das ist die Pest
das ist die Pest
Der dritte sitzt in
grauem Kleid -
das ist das Leid
das ist das Leid
Des vierten Schild trieft
giftignaß -
das ist der Haß
das ist der Haß
Der fünfte bringt stumm
Wein herein -
das wird der
Weinreinbringer sein.
SELBSTFINDUNG
Ich weiß nicht, was ich bin.
Ich schreibe das gleich hin.
Da hab'n wir den Salat:
Ich bin ein Literat.
BEKENNTNIS
Ich leide an Versagensangst,
besonders, wenn ich dichte.
Die Angst, die machte mir bereits
manch schönen Reim zuschanden.
DIE LUST KOMMT
Als dann die Lust kam, war ich nicht bereit.
Sie kam zu früh, zu spät, kam einfach nicht gelegen.
Ich hatte grad zu tun, deswegen
war ich, als da die Lust kam, nicht bereit.
Die Lust kam unerwartet. Ich war nicht bereit.
Sie kam so kraß, so unbedingt, so eilig.
Ich war ihr nicht, nicht meine Ruhe, heilig.
Da kam die Lust, und ich war nicht bereit.
Die Lust war da, doch ich war nicht bereit.
Sie stand im Raum. Ich ließ sie darin stehen.
Sie seufzte auf und wandte sich zum Gehen.
Noch als sie wegging, tat es mir kaum leid.
Erst als sie wegblieb, blieb mir für sie Zeit.
KLEINE ERLEBNISSE GROSSER MÄNNER
KANT
Eines Tages geschah es Kant,
daß er keine Worte fand.
Stundenlang hielt er den Mund,
und er schwieg nicht ohne Grund.
Ihm fiel absolut nichts ein,
drum ließ er das Sprechen sein.
Erst als man zum Essen rief,
wurd' er wieder kreativ,
und er sprach die schönen Worte:
"Gibt es hinterher noch Torte?"
MATERIALIEN ZU EINER KRITIK
DER BEKANNTESTEN GEDICHTFORM
ITALIENISCHEN URSPRUNGS
Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut
hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut
darüber, daß so'n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserei blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.
Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.
Bussard an der Bahnstrecke Ulm-Augsburg
Der Bussard ist ein stolzes Tier,
bei Jettingen liegt sein Revier
Dort sitzt er schwer im welken Gras
weil er, vermute ich, schon fraß
Ich blick auf ihn vom ICE
und denk an die, die ich nicht seh,
An Mäusevater, Mutter, Kind
die alle in dem Bussard sind
Und stumm entbiete ich dem Tier
ein eiliges "Hallo ihr vier!"
Finger weg
Nun soll man ja nicht fragen:
Mein Gott, wer bist dann du?
"Ich bin das gänzlich Andere,
das wortentrückt Besandere,
stand stets und steh auch hier und jetzt
hoch über Sprach- und Reimgesetz,
so durch und durch besonders:
Noch anders bin ich onders"
Nein, man soll ja nicht fragen...
Sinngedicht
Sei gut zu dir.
Die Welt ist schlecht.
Das Unrecht blüht,
nimm dir das Recht
und tu den Schritt
zum Ich vom Wir:
Die Welt ist schlecht.
Sei gut zu dir.
Oktoberfest
Sitzend unter den Ungeschlachten
fühl ich mich federleicht
und fremd
Stehend am Morgen danach auf der Waage
weiß ich: Ich war unter
meinesgleichen
DER KÜNSTLER IM GESPRÄCH
Wie findest du denn, was ich mache?
Gut, das ist meine Sache.
Doch wie findest du, was ich tue?
So. Du willst deine Ruhe.
Und wie findest du, was ich schreibe?
Nein, bitte geh nicht, bleibe!
Wie findest du denn, was ich male?
Nein, sag nichts! Schweig, ich zahle
dir noch ein Bier. Doch zur Sache:
Wie findest du denn, was ich mache?
WORTE ZU BILDERN
ZU PIETER BREUGHELS BILD "BAUERNHOCHZEIT"
Zum Schrei'n
wie er die Flächen füllt,
die von Figuren überquillt,
von Leuten groß und klein -
zum Schrei'n!
ZU LEONARDO DA VINCIS "MONA LISA"
Zum Brüll'n,
wie manches lange Jahr
er vor der Leinwand tätig war,
anstatt sie zu zerknüll'n -
zum Brüll'n!
ZU DÜRERS HANDZEICHNUNGEN
Zum Heul'n,
wie viele tausend Blatt
er blindlings vollgezeichnet hat
mit Männern, Frauen, Eul'n -
zum Heul'n!
ZU ERWIN KRAUTNICKS GEMÄLDE "MEINE OMA"
Gekonnt,
wie er die Oma bringt,
die bäuchlings "La Paloma" singt,
von letzten Strahlen übersonnt -
gekonnt!
IMMER
Immer einer behender als du
Du kriechst
Er geht
Du gehst
Er läuft
Du läufst
er fliegt:
Einer immer noch behender.
Immer einer begabter als du
Du liest
Er lernt
Du lernst
Er forscht
Du forschst
Er findet:
Einer immer noch begabter.
Immer einer berühmter als du
Du stehst in der Zeitung
Er steht im Lexikon
Du stehst im Lexikon
Er steht in den Annalen
Du stehst in den Annalen
Er steht auf dem Sockel:
Einer immer noch berühmter.
Immer einer betuchter als du
Du wirst besprochen
Er wird gelesen
Du wirst gelesen
Er wird verschlungen
Du wirst geschätzt
Er wird gekauft:
Einer immer noch betuchter.
Immer einer beliebter als du
Du wirst gelobt
Er wird geliebt
Du wirst geehrt
Er wird verehrt
Dir liegt man zu Füßen
Ihn trägt man auf Händen:
Einer immer noch beliebter.
Immer einer besser als du
Du kränkelst
Er liegt danieder
Du stirbst
Er verscheidet
Du bist gerichtet
Er ist gerettet:
Einer immer noch besser
Immer
Immer
Immer.
SAUBER BLEIBEN
Mich manchmal den Medien verweigert
Dachte, das würde unheimlich wahrgenommen
Aber meine Freunde vor den Fernsehern
Die haben das überhaupt nicht mitbekommen.
Auch: Keine Frauen ins Bett gedichtet
Niemals rilkehaft abgesahnt
Freilich: Die also Verschonten
Haben ihr Glück nicht einmal geahnt.
Dann: Ziemlich viel Geld ausgeschlagen
Nicht peanuts - wirklich Summen
Hätte das vielleicht bekanntmachen sollen
Aber: wer spielt gern den Dummen?
Hier und da mit den Wölfen geheult
Doch viel öfter mit den Schafen
Wirklich: Ich habe das beste Gewissen der Welt
Nur: Was läßt mich nicht schlafen?
ÜBER DEN WIDERSTAND
Der Schriftsteller He-hei (Eckardt Henscheid) hielt es für verwerflich, Literaturpreise anzunehmen, während sein Kollege Ge-ga (Robert Gernhardt) nichts dabei fand.
"Indem du dich mit dem Literaturbetrieb gemein machst, stärkst du ihn", sagte He-hei.
"Indem ich ihm Geld entziehe, schwäche ich ihn", hielt Ge-ga entgegen.
"Indem du einen Preis annimmst, gibst du zu verstehen, welches dein Preis ist", fügte He-hei hinzu.
"Indem ich jedweden Preis annehme, ganz gleich, wie hoch er dotiert ist, signalisiere ich, wie gleichgültig mir der jeweilige Preis und das mit ihm verbundene Geld sind", erwiderte Ge-ga.
"Indem du es zuläßt, daß dein guter Name mit so etwas Fragwürdigem in Verbindung gebracht werden darf, wie es ein Preis ist, schwächst du bei jenen Jüngeren, die zu dir aufblicken, den Sinn für Richtig und Falsch und damit ihren Widerstand gegen den Literaturbetrieb", mahnte He-hei.
"Indem ich ein schlechtes Beispiel gebe, schwäche ich lediglich ihre Bereitschaft, zu jemandem aufzublicken", versetzte Ge-ga. "Damit aber stärke ich ihren Eigensinn, die wichtigste Voraussetzung dafür, jedwedem Betrieb Widerstand entgegenzusetzen".
KUNST UND LEBEN
Es gibt in Leben wie in Kunst
nur Schrott und allererste Sahne.
Zum Beispiel Markus. Der ist Schrott.
Doch Pablo: allererste Sahne.
Oder die Karin: eitel Schrott.
Die Marlen: allererste Sahne.
Der Johann Wolfgang dito. Aber
der Max? Der ist doch sahnemäßig
nicht allererste, folglich Schrott.
So, wie die Gabi nicht, der Günter
nicht alleraller-, ergo Schrott.
Schrott auch der Piet. Dagegen Pieter
die allerallererste. Aber
der Peter erst. Sowas von Schrott,
nein Sahne, nein, nicht Sahne, sondern
nein, nein, nicht Schrott, doch auch nicht Sahne,
nein, zwischen Schrott und Sahne irgend-
wo angesiedelt, dort, wo's grau wird
und Grenzen träge fließen, bis sie
zu einer Soße alles mengen:
in unsrer Welt aus Sott und Schrahne.
ernst jandl:
ejakuliertes werk
die wände hoch regale königlich
darin LEITZ-ordner gefüllt mit blättern DIN A4
jedes datiert, an jedem festgetrocknet
je ein ejakulat, seit pubertät
bis dato, da er dem himmel nahesteht.
ein spermawerk äußerster konsequenz
zeugnis poetischer integrität
wie verrückt
wie verrückt arbeiten alle an neuen romanen und
wie verrückt an neuen theaterstücken und wie
verrückt an neuen gedichten und die maler
malen wie verrückt an ihren neuen bildern und
die bildhauer hämmern wie verrückt auf ihren stein
und die komponisten tragen wie verrückt ihre häßlichen noten ein
und die musiker tag und nacht blasen wie verrückt in ihr saxophon
ihre trompete ihre posaune klarinette flöte oboe fagott
ins theater
vater und kind
gehen ins theater.
wenn sie dort sind
beginnt das stück.
ist es aus
gehen sie zurück.
das war ein applaus!
sagen sie zur mutter.
ein anderes mal...
mutter und kind
gehen ins theater.
wenn sie dort sind
beginnt das stück.
ist es aus
gehen sie zurück.
das war ein applaus!
sagen sie zum vater.
ein anderes mal...
vater mutter und kind
gehen ins theater.
wenn sie dort sind
beginnt das stück.
ist es aus
gehen sie zurück.
das war ein applaus!
sagen sie zu einander.
ein anderes mal...
das kind
geht ins theater.
wenn es dort ist
beginnt das stück.
ist es aus
geht das kind zurück.
das war ein applaus!
sagt es zu den eltern.
ohren im konzert
der pianist läßt seine finger in die flasche rinnen, die ein klavier ist, und die flasche spritzt die finger als kölnischwasser in die ohren-galerie. die ohren aber haben keine feinen nasen. daher lassen sie das kölnischwasser in die ohrenständer rinnen, die innen hohl sind bis zu den plüschpolstern, auf denen sie als tiefe brunnen sitzen, und gähnen einander in den mund.
wahnsinniges gedicht
weder durch flüstern, sprechen, schreien,
heulen, tränen, spritzen
noch spucken, schlucken, husten, kotzen
die nase schneuzen, in der nase bohren
ohrenausblasen, ohrenschmalz entfernen
ist es aus seinem kopf herausgekommen
je in die form von schrift gelangt;
es fraß ihm das gehirn auf;
wahnsinn dankt
goethe
gesänge aus "wilhelm meister"
harfenspieler 1
wer sich der einsamkeit ergibt
ach! der ist bald allein
ein jeder lebt, ein jeder liebt,
und läßt ihn seiner pein.
ja! laßt mich meiner qual!
und kann ich nur einmal recht einsam sein,
dann bin ich nicht allein.
es schleicht ein liebender lauschend sacht,
ob seine freundin allein?
so überschleicht bei tag und nacht
mich einsamen die pein,
mich einsamen die qual.
ach, wird ich erst einmal im grabe sein.
da läßt sie mich allein.
dieser original-text ist vorlage für:
1) nasal-velare deklamation (nase-gaumensegel): lippen geöffnet, ohne bewegung; lippenstellung entspricht etwa dem dunklen a; großer ausdruck
2) das gleiche, mit labialer akzentuierung: velarer nasallaut konstant (legato), lippen - weit vorgestülpt, kleine öffnung - akzentuieren mit b-ähnlichen schlägen jede silbe; weniger ausdruck, flacher, singender
3) bilabiale version, stakkato: lippen geschlossen, weit auseinandergezogen, b-ähnliche stimmlose explosivlaute durch öffnen des mundes (b:), akzentuierung jeder silbe, rapides tempo
4) labido-dentale version: w-stellung (obere schneidezähne auf unterlippe), luft wird in stößen, die in zahl und länge den silben entsprechen, ohne stimmton herausgepreßt (geringer ausdruck, intimer
charakter)
diskussion
ist das a) lyrik?
ist a) das lyrik?
a) ist das lyrik?
ist das lyrik a)?
das ist a) lyrik.
das a) ist lyrik.
a) das ist lyrik.
das ist lyrik a).
schade um dieses gedicht
o gott wie schade großer
gott wie schade wie schade
verdammte scheiße schade o schade o
... so schade vielleicht auch wieder nicht
versenken
diese gedichte sind nicht zum laut lesen
sondern zum sich darein versenken
und die goschen zu halten was ein mund ist
wenn aber die galoschen nicht mehr dicht sind
kann ja in patschen man neben dem ofen sitzen
und sinnend das gedicht betrachten worauf
warme freude einkehren wird in das herz
des poesiefreundlichen stubenhockers
den der schnee nicht dazu verlocken kann
feuchte socken sich zu holen
ein roman
ein roman ist eine geschichte
in der
alles zu lange dauert.
das ist ein roman.
wie das erzählen geschieht
hart vor tatendrang
hart vor tatendrang
hart davor
immer hart davor
und lang
und dann lang nichts
und dann lang davon erzählt
rilkes atmen
1
rilke
atmete
die luft
die gute luft
2
rilke
atmete
pausenlos
rilkes schuh
rilkes schuh
war einer
von zweien
jeder schuh rilkes
war einer
von zweien
rilke in schuhen
trug immer
zwei
wade an wade
stand rilke
aus den beiden schuhen heraus
der erfolg
der erfolg macht manchen groß
indem er ihn in die welt bringt
und ihm geld bringt
alle werden aufmerksam auf ihn
er geht hin und kauft sich alles
und am ende ist er hin
nachwort 1978
wer abfall schreibt
wird bald angefüllte laden haben
wenn er jedes blatt aufhebt
weil etwas für die zukunft
daraufstehen könnte.
aber angefüllte laden haben
ist auch nicht schlecht
wenn es der preis ist
für festen glauben
an die zukunft.
aus: die humanisten - konversationsstück in einem akt
m1 ich sein mein sprach
mein deutsch sprach
mein schön deutsch sprach
(zum publikum)
du wundern mein schön deutsch sprach?
sein sprach von goethen
grillparzern stiftern
sein sprach von nabeln
küßdiehandke
nicht sprach von häusselwand
sein sprach von bühnen
sein bühnendeutschen
sein von burgentheatern
nicht sprach von häusselwand
(m2 tritt auf, nähert sich)
mein sprach sein ein loben
immer wenn sprechen ich loben den sprach
mein sprach sein ein loben
(Sprecher: Mann zwei, Mann eins, abwechselnd.
Thema: eskalierende gegenseitige Vorstellung zweier Akademiker.)
m2 du sein gut sprechen
du haben denkenkraft
du wortengewalt
m1 ich sein ein professor
was du sein?
m2 ich sein ein kunstler
was du sein?
m1 ich sein ein universitäten professor
was du sein?
m2 ich sein ein groß kunstler
was du sein?
m1 ich sein ein universitäten professor von geschichten
was du sein
m2 ich sein ein groß deutschen und inder national kunstler
was du sein?
m1 ich sein ein universitäten professor kapazitäten von
den geschichten
was du sein?
m2 ich sein ein groß deutschen und inder national nobel
preisen kunstler
was du sein?
m1 ich sein ein nobel preisen universitäten professor
kapazität von den deutschen geschichten
ich sein ein nobel preisen
m2 ich auch sein ein nobel preisen
m1 ich und du sein ein nobel preisen
m2 herren kollegen
m1 herren kollegen
m2 ich und du sein ein nobel preisen
m1 ich und du sein ein herren kollegen
dieses gedicht
es ist noch nicht gut
und du mußt daran noch arbeiten
aber es stürzt nicht die welt ein
wenn du es dabei beläßt
es stürzt nicht einmal das haus ein
Otto Heinrich Kühner:
KUNSTGRIFF BEIM VERFASSEN DEUTSCHER HELDENSÄNGE
Als sie, unter großem Blutvergießen,
Seinerzeit die Kanonen 'sprechen' ließen,
Übersetzten - man ließ es sogar vertonen -
Die Dichter die Sprache der Kanonen
Mittels Hebung und Senkung und Zäsur
In gehobene Sprache, in Literatur,
In 'Helmgeblitz', 'Hurra' und 'Morgenrot',
'Pulverdampf', 'Schlachtruf' und 'Schöner Tod'.
(Wir sehen durch Pulverdampf und -dunst:
'Ernst ist das Leben, heiter die Kunst'.)
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