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urgesicht
von Gottfried Benn
Eine Klarheit ohnegleichen kam über mich, als ich die Höhe des Lebens überschritten sah. Ich blickte in den Tag, der ohne Besonderheiten einer der Tage in der Wiederkehr der Zeiten war, Novemberanfang, leicht kühl, Insignien des Herbstes auf der Straße, lau und wahllos spielte die Erde
ihn hin. Eine Leichtigkeit fiel mir auf, die mich bewegte. So waren wohl die Dinge, ich unter ihnen, wir alle durchsichtig im Gefälle der Welt. Ein Kommen und Gehn, ein Drang und ein Versagen, und dazwischen nicht berührbar der Weg des Seins. Der Anfang unausdenkbar, das Ende eine Sage, eine Lache, die verdunstete, das Heute und Hier. Fern und gelöst die Jahre der Jugend, die Züge des Stürmens, die Krankheit des großen Flugs. Fern und gelöst jenes Dickicht und Gelände, "wir gehen nicht mehr in den Wald, die Lorbeerbüsche sind geschnitten".
Man liest aus dem Jahrhundert der Alterung der Antike einen sonderbaren Bericht. Es kam den Leuten im römischen Reich vor, als begönnen die Flüsse seichter zu werden und die Berge niedriger; auf dem Meer sah man den Ätna nicht mehr aus so weiter Ferne wie früher, und vom Parnaß und Olymp verlautete dasselbe. Der Kosmos, meinten die Naturbeobachter, sei als Ganzes im Niedergang begriffen. Dies Nieder, räumlich, empfand ich so sehr. Überall sah man durch die Stämme, und wo man früher lauschte, heute überhörte man Ruf und Schrei. Topographisch weit durchblickte ich das Gelände, und merkwürdig plastisch überzog mich der Raum mit einer Nähe aus Fernher.
So war es auf dem Lande, wenn ich sonntags dahin einen Ausflug unternahm, so auch in der Stadt, wo meine Wohnung über allem schwebte. Über dem Jahrzehnt, heute, nach Beendigung des Kriegs. Den vierzig Jahren seit Nietzsche, als dem Ausgang der Triebpsychologie. Den hundert Jahren, seit in der Stadt die erste Gaslaterne brannte, jenem berühmten Jahr, in dem Europa erhielt: ein festländisches Eisenbahn netz, überseeische Dampferfahrten, den Telegraphen, die Photographie, verbesserte Mikroskope und die Mittel zur Erzielung des künstlichen Schlafs.
Ja diese Stadt, doch wahrhaftig nicht aus Tau und Vogelsang, vielmehr voll Gegenstandsgedränge, wie lautlos und leicht in meinem Raum! Draußen, wenn man sie bemerkte, welch Leben und Weben, welch Chaos, welche Paradoxie: Antikes und Experimentelles, Stadien und Neurosen, Atavismen und Ambivalenz. Bizarre Epik des Augenblicks: Kollektivismus, aber selbst die Obstkähne organisieren sich, und die Bretterbuden machen Dividende; fünf Proletarier in einem Bett, aber die Griffons, paarweise, müssen dem Gesicht der Dame ähneln, die Parfüms aus Trüffeln und die Gerichte aus Palmenmark. Dichten und Denken: der fünfte Teil der Volksschüler geht aus Armut morgens ohne Nahrung in die Klasse, aber die Dahleminstitute bauen für mehrere Millionen ein Boardinghouse für den ausländischen wissenschaftlichen Besuch. Der gestirnte Himmel: Raketenautos an den Mond, Projektilaviatik an die Sterne, und die letzte Droschke fährt von Wannsee nach Fontainebleau, die Familie mit Kind und Kegel im Hundewagen hinterher; zwei Kellner gehen zu Fuß in Frack und weißer Binde von Brandenburg nach Genf, um einen Kranz am Vereinsgedenkstein niederzulegen; drei Hindus nähern sich, sie radeln um die Welt - alles wahrhaftig doch erwähnenswerte und wirklichkeitserfüllte Dinge aber in meinen Räumen wurden sie lautlos und gestillt.
Von diesen Räumen gingen drei auf die Straße, einer in de Hof. In den Hof ergoß sich ein Musikcafé, das belauschte ich oft, entführende Weisen. Manchmal, wenn ich nachts in mein Schlafzimmer trat, ertönte die Musik. Ich öffnete das Fenster, ich löschte das Licht. Ich stand und atmete den Laut. Lange stand ich. Ich sah in die Nacht, die nichts mehr für mich barg, nichts mehr als den Dämmer meines Herzens, eines Herzens, das altert: vage Luft, Ergrauen der Affekte, wem man gibt, dem verfällt man aber Geben und Verfallen, das war sehr weit.
In die anderen Räume fiel die Röte der Stadt. Da ich Ninive nicht sah mit seinem Grund aus Jaspis und Rubin, da ich Rom nicht sah im Arm der Antonine, betrachtete ich diese, sie trug die Mythe, die in Babylon begann. Eine Mutterstadt, ein Schoß ferner Zeiten, neuer Schauer mittels Step und Injektion Was in den Epochen der Mönche durch Stundenbücher und Korollarien, in den Jahrhunderten der Rationalisten durch Spekulationen und Kosmogonien, ging heute durch die Beugen ihrer Tänzerinnen, im Murmeln ihrer Kniegelenke eröffneten sie den Daseinsausdruck ganzer Völkerzüge. Und Jenes, das wir nicht kennen, sah ich treiben durch ihr Fleisch und Stein. Es riß Findlinge aus den Feldern und trieb Kommunalblöcke aus ihren Weichen, es schmierte Asphalt durch ihre Wälder für eine Menschheit, die Vermehrung treibt. Eine menschliche Masse, die im letzten Jahrhundert ihr Lebendgewicht mehr als verdoppelt hat, jährlich um zwölf Millionen Individuen weiterwuchs und in weniger als hundert Jahren nochmals mit hundert Prozent im Dacapo steht. Also Riesenzentren, Übervölkerung. Brot teurer als Kinderfleisch. Melonen in die Ausgüsse, Kartoffeln in das Blumenbeet - das würde die Welt werden weit über mich hinaus, weit über meine Zeit, weit über meine Räume, weit über diese Stunde, in der ich stand, diese Novembernacht, dort ihre Röte und hier ihr Schweigen.
Nach Jahren des Kämpfens um Erkenntnis und die letzten Dinge hatte ich begriffen, daß es diese letzten Dinge wohl nicht gibt. Nicht unbeteiligt an diesem Begreifen war die Bekanntschaft mit einem älteren Herrn gewesen, der sich eines Abends in geselliger Weise als Landsmann von mir vorstellte, ein Ohrenarzt, Inhaber einer Klinik, bayerischer Oberstabsarzt, wie er in den ersten Sätzen bemerkte, und der von gemeinsamen Bekannten sprach. Einigen jungen Leuten, die viel in seinem Elternhaus verkehrten, Taugenichtse, Faulenzer, Tagesschreiber, Trunkenbolde - längst verschollen. Den einen habe er vor Jahren noch einmal getroffen und ihm behilflich sein wollen, bei einer Zeitung eine Stellung zu erhalten, aber der Betreffende sei zu der verabrede ten Stunde gar nicht erst gekommen, einige Tage später sei er bei ihm in der Wohnung erschienen, völlig unnüchtern, er habe ihn, wie er sich ausdrückte, "hinausweisen lassen", wenige Wochen darauf sei er dann im Delirium zugrunde gegangen.
So rief er die Vergangenheit wach und war in der Tat an Lebenshaltung, Bekleidung, Umfang des Wirkens dem Toten über, er übertraf ihn an Widerhall, Klinikbesitz und militärischem Rang ganz erheblich, ja er stellte eigentlich alles an ihm in Schatten, aber war deswegen der Jugendfreund völlig unvollendet gestorben, ohne Symbol, nutzlos, ohne daß das Ungeheuerliche des Lebens durch seinen Lauf hindurchschien, sein Unermeßliches an Rausch und Trieb, seine Indifferenz gegen Individuelles, sein fleischlicher Zerfall, in diesem Rhythmus sank doch auch er nach sicherlich anfangs engelreinen Jahren in die Tiefe, beschrieb denn dieser hier einen größeren Kreis, trug ihn durch die Ohrenklinik ein geheimnisvolleres Erleben? Ich war unschlüssig, ich konnte mich nicht entscheiden, es zu bejahen. Da das Leben doch bei dem Verstorbenen in vollem Maße am Werke gewesen war, mußte es seine Zeichen auch in dieser, an dem Oberstabsarzt gemessen, niederen Form zur Geltung gebracht haben. Allerdings konnte ich im Augenblick nicht sagen, welcher Art dieses Zeichen eigentlich war.
Die Unität des Lebens, so bildete sich in mir die Idee, war es, die ich hier gegen einen Angriff zu verteidigen sah. Das Leben will sich erhalten, aber das Leben will auch untergehen, immer klarer begriff ich diese chthonische Macht. Richtete ich meine Gedankengänge auf das Tierreich, die Gattung, das Kommen und Sterben der Typen, so hatten natürlich hereinbrechende Meere in geologisch kurzer Zeit ganze Rassenteile abgeschwemmt und die ungeheuren Aschenregen vulkanischer Ausbrüche große Tiergemeinschaften erstickt; aber gerade das Aussterben von Typen, das Vergehen von Einheiten, hatten diese geologischen Ereignisse nie bewirkt. Das Aussterben von Typen und nicht weniger das gleichzeitige spontane Erscheinen von neuen stellte sich immer mehr als ein erdgeschichtliches Faktum dar, das den Eindruck einer einheitlichen inneren Ursache machte. So traten in der Erdgeschichte gleichzeitig mit den Blütenpflanzen die Schmetterlinge und honigsaugenden Formen auf, mit bestimmten riffbauenden Korallen die an ihren Riffen hausenden und mit ihnen in Lebensgemeinschaft wohnenden Stachelhäuter und Krebse, um mit ihnen gemeinsam zu verschwinden. Ohne Bezug auf elementare Ereignisse, ohne ersichtlichen Zusammenhang mit Milieuveränderungen, keiner Erklärung zugängig, nur als Phänomen von innen her zu deuten. Eine erlöschende Formspannung, ein Altern, eine Abnahme an Zahl und Lebensraum auf der einen, ein Quellen und Dasein auf der anderen Seite schien sich auszusprechen; eine Polarität des Gestaltungsdrangs, eine innere Spannung zwischen den Formenzügen vorzuliegen; in Schalen, von Göttern gehalten, schien das Dasein zu ruhn, einmal war dort mehr Wasser und einmal dort mehr Land, hier eine Koralle und dort ein Muscheltier, ruhend am Fuß, steigend und fallend um die Gestalt des Menschen, der Tiere ausströmte und Pflanzen abspaltete, er, unentrinnbar in Gewalten eines weiteren Geschehens, der Schalenträger und ihrer Ferne -: denen also wäre auch der Verstorbene erlegen, und in großen Zusammenhängen senkte sich seine Formenreihe in ein früh erschlossenes Grab.
Geringfügige Veranlassung, rein persönlich motivierbare Gedankengänge; aber mich brachte. das Ereignis dahin. diesen Mann schärfer ins At zu fassen, diesen Herrn auf der Höhe seiner Zeit, den Führer weiter Schichten, den Träger der positiven Idee den kausalgenetischen Denker. Ich sah ihn vor mir mit seinen Instrumenten, dem Ohrentrichter, der Pinzette, keimfrei und vernickelt, weit hinter ihm die maurische Epoche, das Zeitalter der Bruch- und Steinschneider, das galenische Dunkel, die Mystik der Alraune. Ich erblickte seine Klinik, gewichst und gebürstet, ganz etwas anderes wie die Kräutergärten und Destillierherde der mittelalterlichen Harnbeschauer. Plastisch um fing mich sein sonores und voluminöses Organ mit seinem suggestiven und hypnotischen Reiz und verdrängte völlig die Erinnerung an jene Besprechungen und Lieder der Walen, von denen ich gelesen hatte, der kimbrischen Priesterinnen, die in weißen leinenen Gewändern, umschlungen mit einem ehernen Gürtel, ihrer sogenannten Heilkunst oblagen. Nur wenn ich darüber nachdachte, daß sich die Menschheit doch so lange erhalten hatte, obschon man die Geburtshilfe bis vor kurzem unter den Kleidern und im geheimnisvollen Dunkel betrieb, sich so lange erhalten hatte trotz allen Aussatzes und Pesten, Seuchen, Würmern und Bakterien, die doch erst unser Repräsentant seit verhältnismäßig kurzer Zeit wirkungsvoll zu bekämpfen sich darstellte, streiften wohl meine Gedanken in die Richtung jener auffallenden Hypothese der jüngsten amerikanischen Rasseforscher, die darauf hinauslief, daß für die Mehrzahl der Menschen der Zeitpunkt des Todes als durch Erblichkeit bestimmt anzusehen sei, ja für achtzig Prozent der Menschheit berechneten sie, daß die Krankheit keine ausschlaggebende Bedeutung für die Lebensdauer besitze, die Erbbestimmung vielmehr enthalte den Faktor auch für diesen Teil des individuellen Geschicks. Und wenn ich weiter eine Bestätigung dieser Hypothese in gewissen statistischen Sonderbarkeiten fand: dass die von der modernen Wissenschaft errechnete ideale Lebensdauer gleich normaler Sterblichkeitszahl, diese Standardzahl, kontrolliert über Zeiträume von Fünfjahrperioden während eines Jahrhunderts und einer räumlichen Ausdehnung von 276 Distrikten, beispielsweise Englands, das ich studierte, schon für das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sich ergeben hatte, also für einen Zeitpunkt lange vor dem sogenannten Siegeszug der modernen Biologie, so konnte es geschehen, daß, wenn ich in solchen Augenblicken des Ohrenarztes und seiner Pinzette, allgemeiner der Beziehung zwischen der Zauberer und die an heiligen Stätten dargebrachten Opfer unserer Ahnen nicht hindern konnte, sich in mein Begreifen vorzudrängen.
Jedenfalls, da stand er also vor mir: der Biologe, der Keimblattmarxist der Anilinexporteur, der Villenzusammenforscher, der als Lamm entstieg und als Drache sprach. Das Zeitalter Bacons, das Mannesalter des Denkens, das gusseiserne Säkulum, das nicht Götter mit dem Beil machte, aber Teufel mit den Erzen: vierhundert Millionen Individuen auf einen winzigen Kontinent zusammengepfercht, 25 Völkerschaften, 30 Sprachen, 75 Dialekte, inter- und intranationale Spannungen von Ausrottungsvehemenz, hier Kampf um Stundenlohnerhöhung von 2 Pfennigen, dort Golfmatch des Carltonklub im blütendurchfluteten Cannes, Fürsten im Rinnstein, Landstreicher als Diktatoren, Orgie der Vertikaltrusts, Fieber der Profite: die begrenzten Reichtümer des Erdteils ökonomisch, d.h. mit Aufschlag zu verwerten.
Auflösung der klassischen Systeme vom Ural bis Gibraltar. Hochkapitalismus: Erdbeben in Südeuropa, große Zeit für Baufirmen und Innenarchitekten; Eisen- und Stahlvertreter erst den Segen vom Berg Athos, dann rüstig ins Marizatal! Vorne beweinen wir die Opfer und hinten die Trauerrandprofite; im Leitartikel die Gebrechlichkeit der Welt und fürs Geschäftliche die geologischen Bruchfalten und die wirtschaftlich gesunde Erdbewegung! Sozialismus: geregelte Nahrungszufuhr, körperliche Unsterblichkeit, gesundheitliches Überdauern - : Hesperidentraum der lnnungskrankenkasse.
Und drüben stand das große Land mit der Mythe aus Philadelphia, dem Mann, dem mit einem Stück Bleirohr der Schädel eingeschlagen wurde, weil er am 14. Mai einen Strohhut trug. Der heilige Aloysius vom Delaware, der jungfräuliche Märtyrer, der außerhalb der Saison einen Strohhut tragen wollte. - Wer hatte mit dreißig Jahren mehr auf der Bank: Dempsey oder Hölderlin? - "Wo sind die prominenten Bürger von New Salem? ", fragte Lincoln, als er die Stadt betrat. Antwort: "New Salem hat keine prominenten Bürger, hier ist jeder ein prominenter Bürger", und da standen sie: ehrliches Bekenntnis zur Volksgleichheit vom Eiscreme bis zum Hosenschnitt.
Einheitsidole; Schemen im Drilltanz, Stapelware. Kult unter Scheinwerfern. Abendmahl mit Jazz; Gethsemane als Rekordekstase, Christus der erfolgreiche Unternehmer, Gesellschaftslöwe, Reklamegenie und Begründer des modernen Geschäftslebens, der auf der Hochzeit von Kana auch mit einem mäßigen Jordankrätzer die Situation zu retten verstand, der geborene Manager, der selbst in eine Zeit, wo neue Religion nicht gefragt war, den reichen Nikodemus zum Diner laden konnte. Denn Dollar war gottgewollt, Bodenbesitz an
sich sittlich positiv; darum Bibelstunden gegen Abflauen der Konjunktur, den Pentateuch gegen die Bodenfixer. Der Keepsmilingprophet der Neuen Welt und Annilinmetapysiker der Alten mit Shakehands über den Atlantik gleich Codekabeln betreffend Oilshares und die Petroleumexegese. Knockout Mitropa, - der neue Typ: mit seinen Malen fleckt er die Erde: die Schwebebrücke von Manhattan zum Fort Lee, die 1932 fertig sein wird, 1067 m lang, getragen von vier Kabeln von je 914 mm Durchmesser, einer noch bei keiner Kabelbrücke erreichten Dicke; bei der 1888 erbauten Brooklynbrücke erreichte die Kabeldicke nur 400 mm - Differenz 514! - Durchmesser. Mit Flug und Feuer komprimiert er die Zenite, er überwindet Raum und Zeit, sonderbaren Raum, sonderbare Zeit, Treibriemenkategorien, Akkordbegriffe, er verbessert Raum und Zeit, die Urgesichte.
Dies mein Jahrhundert Ware es mein Jahrhundert! Wäre es mein Jahrhundert - ach, es war die Äone; es war die Geschichte, die Horde, der Aurignac, der Wuchs im Dunkel, die Zügellosigkeit der Schöpfernacht. Einmal das grüne Gewächs des Steinkohlenwaldes, einmal die Eroberungszüge der Wirbeltiere in die Meere der Vorzeit, einmal diese Rasse, von den Gletscherrändern Asiens, mit dem nach rückwärts verschleierten Gedächtnis, ruhelos und selbst die Erdperioden kürzend.
Irgendeine Masse lag im Verdeckten, und irgendetwas trieb sie zu Realisationen eines Zwangs. Uralte Dränge! Die Hochburgen der diluvialen Industrie in Frankreich und Österreich, sehr nahe den modernen: Creuzot und den Skodawerken - glänzendes Können! Die Lorbeerblattspitze der Solutréenkultur - das Höchstmaß technischer Steinbearbeitung! In der warmen Mitte der Zwischeneiszeit die Schönheit von Willendorf, primärer Stiltrieb, konstruktivistisch Autochthones. In den Lößfundstätten Mitteleuropas neben 900 Mammutresten 25000 Artefakte! Als das Magdalénien von der Steinbehauung zur Knochenbearbeitung überging, begrüßte man die Morgenröte einer neuen Zeit, der Silberstreif war der quartäre Jäger mit der Hornharpune.
Reiz und Verdrängung. Technisches Heute, maschinelles Gestern. Der erste Einbaum soziologisch folgenreicher als U-Boot und Fokker; der erste Pfeil tödlicher als Phosgen. Gelegenheiten mit Wasserspülung waren der Antike geläufig, nicht weniger Lifts, Flaschenzüge, Uhren, Flugmaschinen, Automaten; Monomanie in Tunnels, Gängen, Leitungen, Aquädukten -: Termiten mit Raumneurose, Zwänge zu Griffen.
Masse in Trieben. Hirnblasen in die Ausgüsse, Keimblätter ins Blumenbeet, Dottersäcke im Stoß von Fernen. Erbe in Übersteigerung und Räuschen, astral der Brand, meerüber das Verfallen. Krisen, Mischungen, drittes Jahrhundert: Baal mit Blitz und Geißel des römischen Gotts, phrygische Kappen am Tiber, Aphrodite auf dem Libanon - Wirklichkeiten im Ausgleich, Fluten im Verwandeln.
Uralte Dränge altersloser Masse im Klang der Meere und im Sturz des Lichts. Das Leben will sich erhalten, aber das Leben will auch untergehn, Trieb und Versagen - Spiele der Nacht. Verloren das Individuum, das Ich hinab. Durch eine Indifferenz von schweren Graden, durch eine Müdigkeit aus Charakter, ein Schlafverfall aus Überzeugung, ach, Werk: Phantom für Reduzierte; Größe: Spektakel für Gaffer Geröchel für Goldgebisse; über Wissenschaft, banale Methode, die Tatsachen zu verschleiern, Religion, die invektive, - Dithyrambie der Jugend, hinab, hinab!
Ich sah das Ich, den Blick aus seinen Augen, ich erweiterte ihm die Pupille, sah tief in sie hinein, sah tief aus ihr heraus, den Blick aus solchen Augen: fast ausdrucksschwach, mehr witternd, Gefahr witternd, eine uralte Gefahr. Aus Katastrophen, die latent waren, Katastrophen, die vor dem Worte lagen, grauenvolle Erinnerungen des Geschlechts, Zwitterhaftes, Tiergestaltiges, Sphinxgebeuteltes des Urgesichts. Ich erinnerte mich der Aussprüche gewisser Tieferfahrener, daß es vom Übel wäre, wenn sie alles sagten, was in ihrem Wissen läge. Ich gedachte der sonderbaren Sätze, daß man es aufgeben solle, nach jenen letzten Worten zu suchen, deren Schall, wenn sie nur ausgesprochen würden, Himmel und Erde ins Wanken brächten. Ich witterte in Masken, ich röchelte in Runen, ich drängte in Dämonen, schlafsüchtig und roh, mit Instinkten der Mythe, in anteverbaler Triebdrohung prähistorischer Neurone; ich begann zu begreifen, ich erhielt das Gesicht: Monismus in Rhythmen, Masse in Räuschen, Zwang und Verdrängung, Ananke des Ich.
Eine Klarheit ohnegleichen kam über mich, als ich das Leben in gewisser Weise überwunden sah. Deshalb die Flotte der tausend Schiffe, fragte ich mit den Totengesprächen des späten Rom, in der Unterwelt vor dem Betrachter bleichten die Gebeine berühmter Schatten, der Kiefer des Narziß und das Becken der Helena, deswegen die Flotte der tausend Schiffe, der Tod so Unzähliger, die Zerstörungen der Städte. Deswegen die Heroen, die Gründer, die Göttersöhne, Tuisko und Mannus, und die Lieder, die man ihnen sang. Von keinem blieb mehr als ein Umriß und ein Hauch. Das Leben war ein tödliches Gesetz und ein unbekanntes; der Mann, heute wie einst, vermochte nicht mehr, als das Seine ohne Tränen hinzuzunehmen. Einmal das grüne Gewächs des Steinkohlenwaldes einmal die Eroberungszüge der Wirbeltiere in die Meere der Vorzeit - Wiederkehr war alles.
Wiederkehr und diese Stunde der Nacht. Ich stand und lauschte. Lange stand ich und atmete den Laut. Das Leben wollte sich erhalten, aber das Leben wollte auch untergehn - lange Rhythmen, langer Laut. Lange Atemzüge hatte die Nacht, spielend konnte sie sammeln wie zerstreun. Sie gab sie strömte und zauderte sich zurück; auch die Götter schwiegen nur, im Lorbeer zitterte Daphne, am Meer Amphitrites schlummerten die Hermen.
Und über allem Ohnmacht und Traum. Jenes, das wir nicht kannten, rückte die Scheite: Feuer des Herdes, frühe Särge Stühle der Greise hin und her. Uralter Wandel, Dämmer und Mohn, der Stiege abwärts zu, dem Murmel verfernter Wässer
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